Videobotschaften von Mama: Wenn der Tod über eine junge Familie hereinbricht
„Es tut mir leid, dass ich dich mit allem alleine lassen muss.“ Elli (Jessica Ginkel) strahlt vom Laptop, ihre Stimme klingt zärtlich, ganz nah. Ihr Mann Tobias (Golo Euler) kann ihr nicht böse sein, dass sie ihn im Stich lässt. Das liegt nicht an ihrem Lächeln, sondern daran, dass seine Frau nicht mehr lebt. Elli kämpfte jahrelang gegen den Krebs, bis sie keine Kraft mehr hatte für Klinik und Chemo. So blieb ihr etwas Zeit, um vorzusorgen für das Leben nach ihrem Tod. Ihre besondere Hinterlassenschaft ist ein Koffer voller Nachrichten, kleine Videos, auf Sticks gespeichert und ordentlich nach Themen sortiert. Die meisten sind für Tobias, ihren liebenden Ehemann und fürsorglichen Vater, aber auch einige für ihre Kinder, vor allem für die zwei großen, für Lennart (Luke Matt Röntgen) und Lisa (Mathilda Smidt), deren dreizehnten Geburtstag ihre Mutter nicht mehr miterleben konnte. Für Vorschulkind Leon (Matteo Hilterscheid) ist der Verlust seiner Mutter besonders schwer; er versteht noch nicht, was Tod bedeutet, und weil er zu ihr in den Himmel will, brennt irgendwann das Gartenhäuschen. Aber auch sein großer Bruder tut sich schwer. Lennart geht seit Monaten nicht zur Schule, verlässt nur nachts sein Zimmer, er hat eine Stinkwut auf seine Mutter, ja, er war nicht mal auf ihrer Beerdigung. Lisa ist nachsichtiger mit Elli, nimmt sich einige ihrer Stick-Botschaften zu Herzen. Wer sie ist oder wer sie einmal sein möchte, das weiß sie allerdings noch lange nicht.
Top-Produktionen, von denen sich die Sat-1-Serie vielleicht hat inspirieren lassen
Familienserien waren einmal das Herzstück des deutschen Fernsehens. Aber mit der Ausdifferenzierung der Zielgruppen und deren bevorzugter Inhalte sind offenbar nur noch Krimis mehrheitsfähig. Umso schöner, dass nach den Serien „Das Wichtigste im Leben“ (Vox), dem deutschen Remake von „Bonusfamilie“ (ARD) oder „Fritzie – Der Himmel muss warten“ (ZDF) es mal wieder eine gelungene Familienserie in die deutsche Primetime geschafft hat. Dass Sat 1, ein Sender, der in Sachen eigenproduzierte Fiktion in den letzten Jahren rapide abgewirtschaftet hat, sich dieses Genres annimmt, ist einerseits erfreulich, andererseits verspricht die Erfolgskurve des Bällchen-Kanals nicht unbedingt, dass „Nachricht von Mama“ die Resonanz bekommen wird, die diese vorzügliche Drama-Serie verdient hat. Auch wenn die Videos-nach-dem-Tod-Idee stark an die Netflix-Serie „After Life“ erinnert oder die psychologische Grundsituation Parallelen mit dem Grimme-Preis-gekrönten Ausnahme-Drama „Der letzte schöne Tag“ haben mag, so sind das doch beste Referenzen. Die Taschentuch-Effekte der ersten Folgen, hervorgerufen durch die hautnahe, sinnliche Konfrontation mit dem geliebten toten Partner, sind hollywooderprobt und haben in „Ghost – Nachricht von Sam“ ihren tränenreichen Ursprung. Und das Krebsthema ist zwar auch hier – ähnlich wie bei „Fritzie“ – Ausgangspunkt der Geschichte; die Perspektive allerdings eine völlig andere. In der Sat-1-Produktion, die im Rahmen einer „MutMach“-Themenwoche ausgestrahlt wird, kann der Himmel eben nicht warten. Am deutlichsten inspirieren ließ sich die achtteilige Serie allerdings von „This Is Us“, der wegweisenden amerikanischen Familienserie, in der der Tod des Vaters ein Loch ins Familiengefüge reißt und alte Familiengeschichten und wiederkehrende Verhaltensmuster auf verschiedenen Zeitebenen aufdeckt. Es ist eine Serie, die die Gefühlswelten ihrer Figuren absolut ernst nimmt.
Weder die Figuren noch die Autorinnen haben für alles eine (banale) Erklärung…
Auch in „Nachricht von Mama“ wird anfangs geweint. Tränen der Trauer, Tränen der Überforderung, Tränen der Erkenntnis. Dazu werden Themen wie Tod und Umgang mit dem Sterben, Krankheit, Erwachsenwerden und (die Formen der) Liebe angeschnitten und locker und gut verträglich auf die Episoden verteilt. Zunächst sind es neben dem Vater das Nesthäkchen und das Geburtstagskind, die im Fokus stehen. Ein traumatisierter kleiner Ausreißer, dem seine Mama alles bedeutet, und ein Girlie, das seine Pubertät auslebt, sich ausprobiert, zwischen Provokation und Rückzug pendelt und dabei eines nicht möchte: Die tote Mutter vergessen. Ob das der Grund ist, weshalb Lisa sich eine Glatze schneidet? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. So wie die Charaktere nicht immer eine plausible Antwort auf alles haben, so verzichten auch die Autorinnen Suki Maria Roessel, Sabine Leipert und Claudia Leins darauf, alles zu erklären. Es gehört eben auch zum sympathischen Chaos-Prinzip dieser Familie, dass der Vater Leon nicht sofort zum Kinderpsychologen schickt, dass er seinen Kindern viel Freiraum lässt – und dass dabei nicht eindeutig zu klären ist, ob sein laissez-faire Überzeugung ist oder ob ihm nur alles zu viel wird. Klar ist jedoch: An Lennart, seinen Ältesten, kommt Tobias gar nicht ran. Aussitzen ist auch hier seine Strategie, bis er eines Abends in einem Erotik-Chatroom landet und ihm Nadja (Karolina Lodyga) mit dem falschen russischen Akzent den richtigen Tipp gibt: Liebeskummer lohnt sich manchmal doch – und so kommt Jasmin Nabavi (Julia Goldberg), ins Spiel, Lennarts Vertrauenslehrerin, die ihn beim Homeschooling die letzten Monate unterstützt hat.
Soundtrack (Folgen 1-4):
(1) Carly Rae Jepsen („Call me maybe“), Nelly Furtado („Maneater“), Grace Carter („Wicked Game“), Tom Odell („True Colors“); (2) Kathleen Edwards („It must have been Love“), Frances („Three Little Birds“); (3) Beck („Everybody’s got to learn sometime“), Queen („Another One bites the Dust“), Tom Speight („I wanna dance with somebody“); (4) Aimée Mann („One“), Patti Smith („Because the Night“), Wham („Last Christmas“)
Der junge Witwer mit den drei Kindern hat mindestens einen großen weiblichen Fan
Neben der Schule gibt es noch einen weiteren für die Geschichte wesentlichen Schauplatz: die Buchhandlung, die Ellis beste Freundin Katrin (Marlene Morreis) nun alleine weiterführen muss. Sie ist nicht nur die „Sandkastenfreundin“ von Tobias gewesen, sie hat auch beide zusammengebracht und ist die Patentante von Lennart. In einer Rückblende will Elli sie zum Online-Dating überreden. Die Aufzählung, wie Katrins Traummann sein müsse, quittiert die Freundin mit einem freundlichen „Beschreibt Du da meinen Mann?“. Es ist also früh erkennbar, dass Katrin mehr will, als für immer und ewig die beste Freundin von Tobias zu bleiben. Dass dieser – obwohl dauerüberfordert und obwohl Elli in einem ihrer Videos auf seine emotionale „Blindheit“ anspielt – dies kein Bisschen mitbekommt, gehört zu den wenigen Genrekonventionen, die etwas den natürlichen Alltagsrealismus der Serie stören. Hier dominiert plötzlich der Plot über die Hauptfigur, steht die Aufschiebung des Liebesmotivs über der Aufgeklärtheit des Vaters, die Dramaturgie über der Logik der Geschichte.
Soundtrack (5-8):
(5) My Doubt („It’s my Life“), Rose Cousins feat. Bear’s Den & Christof Van Der Ven („I Would Die 4U“), Anni B Sweet („Take on me“); (6) Matt Johnson („Girls Like you“), Lucy Dacus („La vie en rose“); (7) Salt ’n‘ Pepa („Push it“), The Rural Alberta Advantage („Eye of the Tiger“), Madison Cunningham („No Surprises“), Robyn („Dancing on my own“); (8) Chromatics („The Sound of Silence“), Natalia Mateo („Take a Walk on the wild Side“), Hundreds („Wonderful Life“)Die guten Cover-Versionen von bekannten Songs spiegeln das wider, was für die Serie insgesamt gilt: Ist es hier die moderate Variation des Liebes-Drama-Genres durch die immer wieder für Distanz sorgende Machart, ist es beim Soundtrack die dezente Verfremdung, die durch die Cover-Songs entsteht.
Familientradition: Nicht nur die Verstorbene, auch deren Mutter war ein flotter Feger
Die Buchhandlung war aber auch schon vor dem Trauerfall ein zentraler Handlungsort: Hier hatte Elli eine Rückzugsmöglichkeit von der Familie, einen Raum, in dem sie nicht die bemitleidenswerte krebskranke Mutter und Ehefrau war. Hier lernte sie Till (Tim Oliver Schultz) kennen, einen attraktiven, einige Jahre jüngeren Mann aus schwierigen Verhältnissen. Sie entdeckte sein Talent als Autor, motivierte ihn, seine prekäre Lebensgeschichte zum Roman zu verarbeiten, und sie verliebte sich leidenschaftlich in ihn. Von ihrer Krankheit wusste er nichts. Und Tobias weiß bis heute nichts von Till. Und das soll, wenn es nach Katrin geht, auch so bleiben; denn ihr Wissen um Ellis Affäre, könnte Tobias als Verrat ansehen. Aber hat Elli nicht vielleicht auch ein Geständnisvideo vorbereitet? Und was ist wohl auf den Stick, der unter einer Couch gelandet ist? Aber es gibt ja auch noch die verräterische Widmung in Tills Buch „Hafenhunde“. So viel sei verraten: In den acht Folgen wird nicht nur getrauert. Panikattacken gehören zum Alltag. Es fliegen auch schon mal die Fäuste, es wird verstohlen und verboten geküsst, nicht umsonst Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ zitiert und auch der junge Werther kommt zu seinem Recht. Und dann sind da ja noch Barbara (Claudia Rieschel), Ellis Mutter, in jungen Jahren auch kein Kind von Traurigkeit, und Ellis Vater Rainer (Helmut Zierl), liiert mit der Tailänderin Li (Linda Chang), die hochschwanger ist.
Das Beste: die Idee mit den Videos der Toten und den erinnernden Rückblenden
Die weibliche Hauptfigur ist tot und lebt doch in der Serie weiter, ja, sie ist das souveräne Zentrum der Geschichte. Sie hatte stets und sie hat noch immer über ihren Tod hinaus alles und alle im Griff. Eine Frau, die perfekt sein möchte und die gern die Kontrolle behält. Ironie des Schicksals: Ausgerechnet sie verliert ihr Leben an den Krebs. Und was macht sie? Sie balanciert – glaubt man ihren Videos – ihre verbleibenden Monate und Wochen perfekt aus. Sie will ihren Kindern weiterhin eine gute Mutter sein, indem sie Ratschläge für deren Lebenswege gibt (in denen Küchenpsychologie à la „Sei wer du sein willst“ die Ausnahme ist), ihren Mann trösten und zu neuen Ufern treiben („Geh raus, lerne Frauen kennen“) möchte. Es entsteht geradezu das Bild einer Über-Frau. Und das entspricht in etwa dem, was für hinterbliebene Liebespartner typisch ist. Zu dieser Idealisierung kann es vor allem durch die physisch-sinnliche Unmittelbarkeit der toten Heldin kommen, die Jessica Ginkel mit hinreißender Präsenz verkörpert. Würde man allein den Ehemann schwärmen hören von dieser großartigen Frau, wäre der Effekt ein völlig anderer. Insofern ist das A&O dieser von Felix Binder („Lerchenberg“, „Club der roten Bänder“) und Suki Maria Roessel („Getrieben“, „Jenny – Echt gerecht“) frisch & temporeich inszenierten Serie die Idee mit den Videos der Toten und den erinnernden Rückblenden. So werden wesentliche Momente der Vorgeschichte nachgereicht, komprimiert, aus subjektiven Perspektiven, zunächst ohne erkennbaren Plan.
Die Augenblicke der ganz großen Gefühle werden durch die Erzählweise gebrochen
Dieser Retro-Blick verdichtet die gegenwärtige Handlung, und das Bild der Familie wird zunehmend kompletter, die Narration komplexer. Die Geschichte wächst also nicht chronologisch, sondern sie umkreist ihre Themen und Motive und sie springt dabei durch die Zeit. Nicht weniger wichtig ist die Wirkung, die von dieser Erzählweise ausgeht: Die Augenblicke der ganz großen Gefühle werden ständig gebrochen, die aktuelle Befindlichkeit von der Erinnerung konterkariert. Immer kommt etwas dazwischen: die Schwiegermutter, die den Ehemann bei einem Weinanfall überrascht, der Laptop, der Distanz zwischen den Liebenden aufbaut, die Krebsdiagnose, die nicht zu zweit im Bild melodramatisch beweint wird, sondern die Elli – das tragische Momentum noch steigernd – Tobias am Telefon mitteilt.
Eine Serie, die noch nicht auserzählt ist und in der man sich ohne Reue zuhause fühlt
So lässt man sich die Darstellung von Gefühlen gefallen. Hinzu kommt eine alltagsnahe Sprache und ein undramatischer Grundton („bisschen demoliert“). Und so ist „Nachricht von Mama“ kein spekulativ gefühliger Schmachtfetzen, sondern eine Serie, die lebensklug und mit emotionaler Intelligenz aus dem Innenleben einer vom Verlust der Mutter schwer gebeutelten Familie erzählt. Das ist psychologisch plausibel, besitzt den Anspruch eines realistischen Dramas, beherzigt aber gleichermaßen die dramaturgischen Regeln des modernen Serienerzählens – und ist damit eben auch sehr zeitgemäßes (Unterhaltungs-)Fernsehen. Das Figurennetz ist sorgfältig gesponnen. Jeder hat seine Geschichte, auch wenn die eine oder andere Figur – wie im echten Leben – mal für eine Zeit von der Bildfläche verschwindet. Allenfalls beim kleinen Leon, der ja immerhin zum Kern der Familie gehört, irritiert es, dass er nach seiner Präsenz in den ersten beiden Folgen (offenbar aus produktionstechnischen Gründen) fast gar nicht mehr auftaucht. Verhalten wird wie in jeder guten Serie nicht im Hier und Jetzt erklärt, sondern es erschließt sich im Laufe der sechs Stunden, in denen auch den Nebenfiguren kleine, feine Facetten hinzugefügt werden. Das ist dramaturgisch gut austariert, mal psychologisch (bei Ellis Eltern), mal eher Plot-technisch (die Lehrerin und ihre Ehe) motiviert. Für alle Charaktere gilt: Das Vergangene bekommt neue Lesarten, die Konflikte verlagern sich, der Schmerz verändert seine Ausdrucksformen. Die Stimmigkeit dieser Familienserie, deren Geschichte im Fluss ist, erschließt sich also erst nach der kompletten Staffel. Das Bild, das sich dabei ergibt, ist allerdings nicht vollständig ausgemalt. Und da „Nachricht von Mama“ zu den wenigen Serien hierzulande gehört, die ein lebendiges und zugleich tiefes Interesse an ihren durchweg top besetzten Charakteren weckt und in der man sich ohne Reue zuhause fühlen kann, bleibt der Wunsch nach mehr. (Text-Stand: 16.1.1022)