Alma und ihr Sohn, der an einer unheilbaren Muskelerkrankung leidende Jonas, ziehen nach Stuttgart. „Wieder das ganze Programm von vorn“, mault Jonas. Neue Schule, neue Ärztin – der im Rollstuhl sitzende Teenager ist auf Krawall gebürstet. Die Einladung von Dr. Marianne Wildenhahn zum abendlichen „Muskelkreis“, einem Treffen von Patientinnen und Patienten mit ähnlichen Erkrankungen, kontert er mit beißendem Spott: Was er davon haben werde – ein „Zertifikat in Selbstmitleid“? Kurz darauf verschüttet er unverschuldet die Urinprobe über seine Hose, weil Emily auf dem Krankenhaus-Flur versehentlich gegen seinen Rollstuhl rennt. Auch in der neuen Schulklasse trifft Jonas zu seinem Entsetzen auf Emily. Dass sich beide ineinander verlieben könnten, erscheint ausgeschlossen – der klassische Einstieg in einen Liebesfilm, dem man die Vorhersehbarkeit gerne verzeiht, wenn es tatsächlich funkt.
Foto: SWR / Bojan Ritan
Und das geschieht hier. Gerade das vermeintlich Unwahrscheinlichste – die Liebe zwischen zwei Teenagern mit und ohne Handicap – erscheint besonders glaubwürdig. Was nicht zuletzt am Spiel von Julius Gause und Lina Hüesker liegt, dem jungen, aber schon recht erfahrenen Darsteller-Duo. Franziska Buch („Das Wunder von Kapstadt“, „Käthe Kruse“, „Das fliegende Klassenzimmer“), Filmacherin für Anspruchvolles und gleichermaßen hohen Unterhaltungswert, die ihr eigenes Drehbuch inszenierte, gewährt der Entwicklung der Beziehung ausreichend Zeit und lässt Hüesker und Gause bei der sukzessiven Annäherung ihrer Figuren einigen Spiel-Raum. Überzeugend – und mit der notwendigen Sensibilität gefilmt – gelingt auch die Szene, in der Jonas und Emily das erste Mal Sex haben. Und wenn beide gemeinsam durch die Nacht ziehen oder als „Romeo und Julia“ im Schultheater tanzen, findet Franziska Buch auch mal weniger dialoglastige Ausdrucksformen. So schafft sie es, auf berührende Weise mit konventionellen Vorstellungen zu brechen. Hemmungslos kitschig kann es ohnehin nicht werden, denn die unheilbare Krankheit von Jonas (Duchenne-Muskeldystrophie) führt zu einem fortschreitenden Kontrollverlust über den eigenen Körper und zu einer extrem verkürzten Lebenserwartung. Das wirft existenzielle Fragen auf, die hier auch in die Handlung einfließen und ein Happy End in reinem Rosarot ausschließen.
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Freilich: Sowohl Julius Gause als auch Luna Jordan als „Hawking“ im Rollstuhl und Anton Petzold als autistischer Konrad, die zwei weitere Jugendliche mit Handicap in der inklusiven Schulklasse darstellen, spielen die „Behinderung“ ihrer Figuren nur. Immerhin treten im „Muskelkreis“ kurz einige Personen auf, die offenkundig tatsächlich unter Muskeldystrophie leiden – sofort wird der frappierende Unterschied zwischen Schauspiel und Realität sichtbar, ohne dass man dies den Darstellern vorwerfen könnte. Wäre eine andere Lösung möglich gewesen? Franziska Buch: „Es war uns allen schnell klar, dass es keine Möglichkeit gab, die Rollen der Behinderten in diesem Film mit ,echten‘ Muskeldystrophikern zu besetzen. Denn diese Erkrankung ist so schwerwiegend und häufig auch so schmerzhaft, dass auch nur der Bruchteil eines Drehtages für diese Menschen kräftemäßig nicht zu bewältigen ist. Zugleich verunmöglichen die Bedingungen und Budgets, mit denen wir heutzutage Filme machen, einen Rahmen, in dem an eine Arbeit mit Schwerbehinderten überhaupt nur zu denken ist.“
Mäßig gelungen sind eher andere Nebenfiguren. Die überforderte Schulbegleiterin Birgit Fleischmann (Henriette Schmidt) ist nur ein schlechter, plakativer Scherz. Und Dirkens (Florian Stetter) entspricht etwas zu glatt dem Typus gut aussehender, engagierter Lehrer, der dann auch noch als rettender Engel für Jonas‘ Mutter herhalten muss, wenn auch nur als Möglichkeit am Drehbuch-Horizont. Der Generationen-Konflikt zwischen den Kindern und den alleinerziehenden Müttern sorgt jedoch für eine gelungene Vertiefung des Dramas. Überragend Anneke Kim Sarnau als Löwen-Mutter Alma, die sich vollkommen der Fürsorge für ihren Sohn widmet, in zwei Jobs schuftet und sämtliche eigene Bedürfnisse hintan stellt. Alma kämpft auch mit Schuldgefühlen, weil Jonas‘ Krankheit genetisch von den Müttern auf deren Söhne übertragen wird. Sarnaus Spiel macht ohne viele Worte deutlich, welche inneren Kämpfe Jonas‘ Liebe zu Emily bei Alma auslöst. Etwas undankbarer ist die Rolle für Sophie von Kessel, weil Marianne Wildenhahn eine kühle Karriere-Frau ist, die kaum eine emotionale Bindung zu ihrer Tochter erkennen lässt. Für die Mutter ist klar, dass Emily ihr Abitur auf einem Elite-Internat im Ausland ablegen wird. Doch die Tochter schreibt Fünfen am laufenden Band, fälscht die Unterschriften ihrer Mutter unter den Klassenarbeiten und leidet unter Essstörungen. Jonas wiederum verheimlicht Alma das negative Ergebnis des letzten Tests, wonach die Krankheit begonnen hat, auf seinen Oberkörper überzugreifen. Und so besteht das Happy End nicht nur darin, dass sich für Jonas ein Kindheitstraum erfüllt, sondern auch darin, dass die Generationen lernen, einander zu vertrauen. (Text-Stand: 8.9.2023)