„Ist all Schaun und Schein nur Schaum – nichts als Traum in einem Traum?“: Die letzten Zeilen des berühmten Gedichts von Edgar Allan Poe enthalten den Schlüssel zur Antwort auf all’ die Fragen, die die erste Staffel von „Mysterium“ vor einem Jahr aufgeworfen hat. In der clever konzipierten und reizvoll verschachtelten Jugendserie sind vier Teenager in einer Parallelwelt gefangen. Die Tür in dieses menschenleere Jenseits, in dem es niemals Nacht wird, war ein mannshoher Spiegel, doch der Durchgang funktioniert nur mit einem bestimmten Stein, und den hat das Quartett nicht mehr. Seine einzige Hoffnung ist der elfjährige Luca (Timon Joris Holzmann). Er lebt vorübergehend bei seiner Großtante Charlotte (Charlotte Schwab), in seinem Zimmer steht der Spiegel. Der Junge verfügt zwar über eine besondere Sensibilität, doch es gibt keinerlei Möglichkeit, direkten Kontakt zu ihm aufzunehmen; und Charlotte hält seine Erzählungen verständlicherweise für Hirngespinste.
Der Reiz der ersten acht Folgen resultierte vor allem aus ihrer Rätselhaftigkeit, denn zunächst blieb lange offen, wie die zwei Jungs und die beiden Mädchen überhaupt in diese andere Welt gelangt sind, in der alles spiegelverkehrt ist. Außerdem leben sie im Diesseits weiter. Ihre Alter Egos wirken allerdings wie Zombies, die apathisch durch ihr Leben trotten und sich, wenn überhaupt, vorzugsweise durch asoziales Verhalten hervortun. Nicht wenige Erwachsene werden dies als Seitenhieb auf eine Generation verstehen, die derart auf ihre Smartphones fixiert ist („Smombies“), dass sie die Wirklichkeit kaum noch wahrnimmt; die Serie lässt sich ohnehin als Allegorie auf das Verlorengehen in virtuellen Welten interpretieren, zu denen Eltern keinen Zutritt haben. Die zweite Staffel ist eine nahtlose Fortsetzung. Beinahe zwangsläufig üben die jeweils nur gut zwölf Minuten kurzen Folgen nicht mehr die gleiche unmittelbare Faszination aus, denn der Handlungsrahmen ist gesetzt: Elif (Safinaz Sattar), Leonie (Lea Drinda), Yussuf (Shadi Eck) und David (Johan Korte) suchen nach wie vor einen Ausweg aus der wie ausgestorben wirkenden Spiegelwelt, in der es nicht mal Vögel gibt. Außerdem greift die zweite Staffel viele Szenen aus der ersten auf, um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Die Zahl der neuen Elemente ist zudem überschaubar.
Foto: BR / Ralf K.Dobrick
Dafür schließt sich nun der Kreis zu Poes „Traum in einem Traum“, und das nicht allein, weil sich die vier Teenager fragen, ob sie womöglich bloß Figuren in einem Traum Lucas sind: Charlottes alter Mercedes entwickelt ein Eigenleben und bringt Yussuf und David zu einem als „Hauptquartier“ bezeichneten Gebäude, in dem anscheinend vor gut dreißig Jahren die Zeit stehen geblieben ist. Dort machen sie eine ungeheuerliche Entdeckung, die aus einem Alptraum von George Orwell stammen könnte. Wer hinter dieser „Nationalen Wahrheitsbehörde“ steckt, bleibt offen, aber „Mysterium“ spielt in Berlin, und dem Ministerium für Staatssicherheit ist alles zuzutrauen. Außerdem führen Produzent Marcus Roth (Idee, Konzept, Drehbuch) und Regisseur Niklas Weise eine neue Figur ein: Ein sinistrer Makler namens Schmidt will unbedingt Charlottes Villa kaufen, kann aber offenbar beliebig zwischen den Welten hin und her wechseln; im Jenseits scheinen alle Fäden bei ihm zusammenzulaufen. Marc Hosemann verkörpert diesen Strippenzieher wie eine Verbeugung vor den „grauen Herren“ aus Michael Endes Roman „Momo“; der beinahe bodenlange Mantel ist ohnehin ein klassisches Filmindiz für finstere Absichten.
Ob es sich bei „Mysterium“ wirklich um ein „neues Kapitel der TV-Geschichte“ handelt, wie es im Pressematerial des Bayerischen Rundfunks heißt, ist vermutlich Ansichtssache. Fürs hiesige Fernsehen ist die Serie jedoch in der Tat etwas Besonderes. Das liegt nicht zuletzt am speziellen Look. Düster können andere auch, aber Fritzi Ngceni (Ausstattung & Kostüm) hat mit großer Sorgfalt und erkennbarer Liebe zum Detail eine eigene Welt erschaffen (genau genommen zwei), in der beständig eine winterlich triste, konsequent unbunte Atmosphäre herrscht; auch das Diesseits ist ein eher unwirtlicher Ort. Besonders eindrucksvoll sind die Szenen in der Wahrheitsbehörde. Sie sind im seit vielen Jahren verwaisten Sport- und Erholungszentrum in Friedrichshain (im Ostberliner Volksmund „Honeckers Spaßbad“ genannt) entstanden. Großen Anteil an der besonderen Atmosphäre hat auch die elektronische Musik (Carlos Cipa, Martin Brugger), die für Grundspannung sorgt und oft nur aus wenigen Tonfolgen besteht, bestimmte Szenen aber auch hervorhebt, weil sie plötzlich melodisch wird.
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Am Ende gelingt den Mädchen zwar die Rückkehr, doch auch Staffel 2 endet mit vielen Fragen: Wer steckt hinter den Spiegeln, bei denen es sich um sogenannte Reflektoren handelt? Was geschieht, wenn Elif und Leonie auf ihre diesseitigen Ersatzpendants treffen? Was wird aus David und Yussuf? Ob der BR eine Fortsetzung in Auftrag gibt, ist noch offen; alles andere wäre aus Sicht der „Mysterium“-Fans eine riesige Enttäuschung. Kika zeigt die Serie an vier Abenden in Doppelfolgen, beide Staffeln können auf kika.de abgerufen werden. Die erste Staffel wird vom 6. bis 9. Juni, jeweils um 20.15 Uhr, auf Kika wiederholt.