Immer nur geben ist auch keine Lösung!
Nicht einmal zum 35. Hochzeitstag kann sich Barbara (Ulrike Krumbiegel) einen ihrer lang gehegten Träume erfüllen: einen Urlaub in der Provence zur Lavendelblütezeit. Ihr Mann Karl (Ernst Stötzner) dringt auf Stornierung der Reise und verwöhnt „Mutti“ lieber mit einem Turbo-Hightech-Grill. Wie immer steckt Barbara brav zurück, bleibt „einsichtig“, bescheiden, fast unsichtbar. Als sie durch Zufall in einen VHS-Französischkurs gerät, kommen ihre verschütteten Sehnsüchte ans Licht, und sie fühlt sich in ihnen bestärkt, aber auch darin, dass es mit ihrer Ehe und der Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern (Frederic Linkemann & Marie Leuenberger) nicht zum Besten steht. Immer nur geben ist auch keine Lösung! Auch wenn die anderen Kursteilnehmer, der „ewige Sohn“ Richard (Michael Wittenborn), die „Rabenmutter“ Miriam (Lisa Wagner), der „homophobe Schwule“ Mehmet (Edin Hasanovic) und „der Nette“ Simon (Michael Kranz) ihr Päckchen zu tragen haben und der Leiter Alexander (Dominique Horwitz) ein gnadenloser Flunkerer ist, spürt sie doch endlich mal so etwas wie Gemeinschaft. Und sie erkennt, dass sie mit ihrem Mangel an Selbstwertgefühl nicht allein ist. Nur, wie sagt sie es Ihrem Karl?! Der wird langsam sauer, dass Barbara ihm in seiner Firma und in der Küche nicht mehr rund um die Uhr zur Verfügung steht.
Soundtrack: Mina („Parole, Parole“), Edith Piaf („Non, je ne regrette rien“), Martinho Da Vila („Canta Canta, Minha Gente“), Delaville („Fifth Street“)
Lustvoll die Möglichkeiten des Lebens ausschöpfen
„Mutter reicht’s jetzt“ erzählt von einem weiblichen Ausbruch aus den Alltagszwängen einer festgefahrenen, freudlosen Ehe. Eine graue Maus bringt zum ersten Mal wieder ein bisschen Farbe in ihr Leben. Anfangs ist es nur ein Traum, dieses magische Blau des Lavendels, am Ende wird er Wirklichkeit – und auf dem Weg dorthin trägt die unsichtbare Heldin irgendwann ein erstes Mal dezentes Rot auf ihre Lippen. Farbe aber bringen auch diese seltsamen Zeitgenossen in ihr Leben, die auf den ersten Blick so gar nichts miteinander gemeinsam haben, am Ende aber zu einer verschworenen Gemeinschaft werden. Dompteur der Gruppe ist der von Dominique Horwitz wunderbar aberwitzige, filouhaft verkörperte Kursleiter, der seinen Teilnehmern nicht nur die französische Sprache, sondern auch tiefere Einsichten in die Lebensart des Sehnsuchtslandes vermittelt. Seine Figur sorgt dafür, dass sich die Geschichte nicht mit jener eher simplen Selbstfindung begnügt, wie sie auch im post-Neubauerschen Fernseh-„Frauenfilm“-Genre durchaus noch üblich ist, sondern dass dieser Aufbruch eines langzeitunterdrückten Ichs auch in einer sehr stimmungsvollen Tonart erzählt wird. Somit ist diese ARD-Degeto-Dramödie gleichsam ein Plädoyer für die Phantasie: Lustvoll werden die vielfältigen Möglichkeiten, die einem das Leben bietet, ausgeschöpft, statt sich immer nur den Erfordernissen des Alltags und den kleinmütigen Fragen nach Wahrscheinlichkeiten anzupassen. So lautet denn auch einer der geflügelten Sätze des Films: „Es gibt keine wahren oder unwahren Geschichten; es gibt nur schlecht oder gut erzählte.“ Auch wenn der Französischlehrer wohl kaum der Sargträger von Edith Piaf gewesen sein kann, wie er behauptet, und auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, dass er ein guter Bekannter ist von Gerard Depardieu oder Juliette Binoche (obwohl?!) – wichtig ist, was man für möglich hält!
„Der Film zeigt auf humorvolle und berührende Weise, wie Verständnis und Solidarität unser Leben nicht nur positiv beeinflussen, sondern sogar zum Blühen bringen. Menschen, wenn sie sich aufgehoben fühlen, können Unmögliches erreichen. Lehrer Alexander ist solch ein vom Schicksal eingesetzter Joker.“ (Dominique Horwitz)
Ensemblefilm & kleines Wohlfühlfilm-Gesamtkunstwerk
Es ist also vor allem das „Wie“, dieser frankophile Flair, der aus dieser Geschichte über einen Französischkurs für Fortgeschrittene gleichermaßen auch Dramödien-Kunst für Fortgeschrittene macht. Zu diesem „Wie“ gehört auch der Ensemblefilm-Charakter, deren biographische Miniaturen nach und nach ein stimmiges Mosaik ergeben: Sechs vom Leben und den eigenen „Unzulänglichkeiten“ Gebeutelte, die sich öffnen für neue Freundschaften. Die Episoden sind – auch da treffen sich Geschichte und Erzählweise – locker und unkonventionell gereiht: Der VHS-Kurs trifft sich im Café, im Park, beim Boule oder bei einem Picknick am See. Dieser Ausflug vor die Tore Berlins gehört zu den gelungensten Sequenzen von „Mutter reicht’s jetzt“, weil er die Tonlagen des Films, Drama, Wohlfühlfilm und Komödie, in nur wenigen Minuten beispielhaft miteinander kurzschließt: tief belastende Nazi-Vergangenheit und eine allgemeine Lust am Da-Sein müssen sich nicht ausschließen. Dass der Film solche Brüche aushält, liegt an der klugen Balance, die Autor Stefan Kolditz in allen Situationen gelingt. Selbst der Ehe-Buhmann gerät in seiner selbstgerechten Blindheit nicht zum billigen Klischee, sondern eher zu einem Witz auf zwei wackligen Beinen. Ernst Stötzner spielt das perfekt mit einem dezenten Hang zur komödiantischen Übertreibung. Auch die Darsteller der Kursteilnehmer sind erste Liga (überragend in ihrem scheinbar beiläufigen und doch so punktgenauen Spiel: Lisa Wagner und Michael Wittenborn) – und in der gehört es nun mal dazu, dass man problemlos imstande ist, zwischen den konträren Tonlagen von einer Sekunde zur nächsten zu wechseln. Musik, Montage und die Bildgestaltung von Klaus Merkel (ebenfalls diesen Monat zu sehen: „Die Büffel sind los“) tun ihr Übriges, damit der Film von Matthias Tiefenbacher als ein kleines Wohlfühlfilm-Gesamtkunstwerk empfunden werden kann. Und selten genug hat man in Fernsehfilmen das Vergnügen (zuletzt in Petzolds „Polizeiruf 110 – Kreise“), Populärkultur von den Protagonisten selbst interpretiert und somit den Subtext der Geschichte gleich mitgeliefert zu bekommen: So sei Piafs „Je ne regrette rien“ kein Lied über das Scheitern, sondern eines über das Leben, das jeden Tag neu beginnt.