Zehn Jahre herrschte Funkstille zwischen Heddi (Anneke Kim Sarnau) und ihrer Tochter Eva (Zoe Moore). Beide haben ihr eigenes Leben – und das ist schwer genug. Die Küstenfischerin hat mit der niedrigen Fangquote zu kämpfen. Aber auch als Umweltaktivistin hat man es nicht leicht. Deshalb und eben nicht nur wegen des Geburtsages ihrer geliebten Oma Lore (Jutta Wachowiak) kommt Großstädterin Eva mit ihrem zehnjährigen Sohn Jannis (Lewe Wagner) in den beschaulichen Ort an der Ostsee. Die junge Frau muss ins Gefängnis; eine Protestaktion ist aus dem Ruder gelaufen, und weil sie bereits eine Bewährungsstrafe hinter sich hat, muss sie nun ein halbes Jahr absitzen. Da Eva als Kind eine längere Zeit bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist und sie mit Jannis die letzten Jahre bei ihr regelmäßig zu Besuch war, kommt für Eva nur Lore als Sorgerechtsperson in Frage. Doch die geht auf die Achtzig zu und fühlt sich überfordert. Während Heddi durch Zufall von der Haftstrafe ihrer Tochter erfährt, weiß Jannis noch nichts von dem Einschnitt in sein Leben. Nicht miteinander reden hat offenbar Tradition in dieser Familie. So kann sich Heddis Freund Elyas (Neil Malik Abdullah) nur wundern darüber, dass sie ihm ihre Tochter und ihren Enkelsohn verschwiegen hat. Aber es gibt noch ein anderes Tabuthema, das offenbar aus Liebe unangetastet bleibt. Es hat mit dem traumatischen Verkehrsunfall zu tun, bei dem Evas Vater einst ums Leben kam.
Foto: Degeto / Christine Schroeder
Es ist nicht das freitags in der ARD so beliebte Zwei-Sturköpfe-Motiv auf dem Weg zur Versöhnung, das den Fernsehfilm „Mutter, Kutter, Kind“ dominiert. Zwar spielt Volker Krappen („Kleine Schiffe“) mit dem beliebten Beziehungsmuster, bei dem zwischen zwei Menschen – hier sind es Mutter und Tochter – rein gar nichts geht; doch dem Autor und Ko-Produzenten gelingt das Kunststück, die Geschichte so zu erzählen, dass der Zuschauer nicht ständig den ausgedachten Konflikt vor Augen hat und das Dilemma der Protagonisten nicht psychologisch hinterfragt. Denn Kommunikation würde die Handlung und somit den Film sofort beenden. Die Nicht-Kommunikation ist also Herzstück der Dramaturgie. Natürlich gibt es da ein Ereignis aus der Vergangenheit, das Ursache für den Konflikt ist und das nach und nach für den Zuschauer entschlüsselt wird. Auch hier ist es das Wie, wodurch das beliebte Narrativ gebrochen wird. Wäre die Geschichte ein realer Fall von nebenan, würde man sich wundern, dass diese ihre Tochter liebende Großmutter so lange geschwiegen und sich gefühlt auf die Seite der Enkelin gestellt hat. Doch so genau wird sich kaum ein Zuschauer (im Nachhinein) die Handlung durch den Kopf gehen lassen. Zu stimmig ist das, was im Hier und Jetzt erzählt wird, zu stimmig sind die Charaktere, zu angenehm unterschwellig erzählt werden deren Ähnlichkeiten im Verhalten, zu beiläufig treten die Nebenfiguren als Zuhörer (der Vorgeschichte) oder als Helfer in der Not (feine, kleine Rolle: Anton Spieker) in Erscheinung, als dass ihre offensichtliche dramaturgische Funktion der Geschichte schaden könnte.
Soundtrack: Michael Kiwanuka („I’ll Get Along“), Billie Eilish („Bad Guy“), Bob Dylan („Ballad of A Thin Man“), Eels („The Deconstruction“), Hannah Zeile („Where I Belong“)
Foto: Degeto / Christine Schroeder
Wie schon bei Krappens Blaupause für diesen Film, „Vadder, Kutter, Sohn“ mit Axel Prahl und Jonas Nay, überspielt also auch hier die lebendige Oberfläche die allseits bekannte narrative Tiefenstruktur. Es beginnt mit einer präzisen Exposition: In norddeutscher Windeseile werden alle Beziehungen und Konflikte angerissen, werden die ersten strengen Blicke gewechselt. Und es endet mit der Auflösung: Vor dem Haftantritt wird noch ein Kindheitstrauma emotional auf die richtige Bahn gelenkt, und die Blicke sind nun entsprechend weich und tränengetränkt. Dass „Mutter, Kutter, Kind“ so gut funktioniert, ist maßgeblich auch der Inszenierung von Matthias Tiefenbacher und der großartigen Besetzung zu verdanken. Anneke Kim Sarnau und Zoe Moore – die eine der anderen in einigen Einstellungen wie aus dem Gesicht geschnitten – könnten tatsächlich als Mutter und Tochter durchgehen (wobei auch Kostüm und Maske mitgeholfen haben). Ernst sind die Blicke der beiden zu Beginn: die Mutter verunsichert, verletzt, die Tochter bockig und schroff abweisend. Die Annäherung dauert seine Zeit. Das ist gut so. Zehn Jahre lassen sich nicht in ein paar Filmminuten wegwischen. Erst im Schussdrittel lösen sich dann die Spannungen auch in der Mimik – und plötzlich können Sarnau wie Moore ein hinreißendes, kaum für möglich gehaltenes Lächeln aufsetzen. Die Fallhöhe der Geschichte wird quasi auf den Gesichtern der Darstellerinnen erzählt. Und so sitzen Mutter und Tochter am Ende gemeinsam im Auto. Die Situation bedarf nicht vieler Worte. Das „Missverständnis“ zwischen den beiden muss nicht noch einmal verbalisiert werden. Der Zuschauer weiß um die Hintergründe und kann mit diesem Wissen (um eine andere – jene tragische – Autofahrt) diese Szene lesen. Alle Gefühle also, die dieser Film etabliert hat, schwingen in den Schlussbildern noch einmal nach.
Mut zum Gefühl, das ist eines der Markenzeichen von Regisseur Tiefenbacher, stets verbunden mit der nötigen Distanz, um dem Erzählten Wahrhaftigkeit zu verleihen. Ist er auch immer öfter in Krimi („Tel-Aviv-Krimi“ / „Schwarzach 23“) und Komödie („Extraklasse“) unterwegs, so sind doch die emotional aufgeladenen Schauspieler-Dramen wie „Und dennoch lieben wir“, „Gestern waren wir Fremde“ oder „Eine halbe Ewigkeit“ seine nachhaltigsten Arbeiten. Gemeinsam mit Kamera (Hanno Lentz) und Szenenbild (Florian Langmaack) arbeitet er auch in „Mutter, Kutter, Kind“ an einem für Freitagsfilme ungewöhnlichen exquisiten Erscheinungsbild: ob auf See oder an Land, ob Outdoor oder in Omas heimeligen vier Wänden – die Geschichte vermittelt sich auch sinnlich. Die Inszenierung nimmt das reale Licht (auch in Innenräumen) und die Stimmung des Nordens auf; die Ostsee lebt, das Wetter ist spürbar. Das ergibt mehr als ein hübsches Ambiente; vielmehr stellt der Mensch mit der Landschaft eine Verbindung her. Stimmungsvoll abgerundet wird das Ganze durch einen ebenso dezenten wie geschmackvollen Indie-Soundtrack. (Textstand: 8.8.2022)