Morin

Alonso-Kallscheuer, Morreis, Linkemann, Krause, Getto. Leistung oder Lebensfreude?

Foto: BR / Hendrik Heiden
Foto Tilmann P. Gangloff

Grimme-Preisträger Hans-Ullrich Krause entwirft in seinem Drehbuch zu dem „Near Future“-Drama eine Welt, in der Konzerne ihren Nachwuchs schon in jungen Jahren auf eigenen Akademien schulen. Titelheld Morin ist ein aufgeweckter Elfjähriger, der davon träumt, eines Tages zum Mars zu fliegen. Als er die Aufnahmeprüfung besteht, kommt er seinem Traum einen großen Schritt näher, aber nur dem Jahrgangsbesten winkt eine Karriere: Kein Wunder, dass dem Jungen vor lauter Leistungsdruck schließlich jegliche Lebensfreude abhanden kommt. Der Zukunftsentwurf der im Jahr 2037 angesiedelten Koproduktion von BR und Degeto (Odeon Fiction) ist allerdings glaubwürdiger als einige der darstellerischen Darbietungen: Angesichts der anspruchsvollen Dialoge ist nicht immer klar, ob die Mitwirkenden wirklich verstehen, was sie da sagen, und das gilt keineswegs nur für die Kinder. Die Botschaft des Pädagogen Krause ist dagegen gut verpackt.

Deutschland in einer nicht allzu fernen Zukunft: Das staatliche Schulsystem ist endgültig an seine Grenzen gestoßen. Die jugendliche Elite besucht Einrichtungen, die von der Wirtschaft gefördert werden. Auf diese Weise haben die Topkonzerne schon früh Zugriff auf die klügsten Köpfe und die Führungskräfte von morgen. Die Ausbildungsplätze sind entsprechend begehrt, aber natürlich hat der Besuch dieser Kaderschmieden seinen Preis: Weil am Ende nur die Besten übernommen werden, herrscht von Anfang ein enormer Leistungs- und Konkurrenzdruck, dem nicht alle gewachsen sind. Von einer unbeschwerten Jugend kann ohnehin keine Rede sein.

Vor diesem Hintergrund erzählt Grimme-Preisträger Hans-Ullrich Krause („Der Fall Bruckner“) die Geschichte des elfjährigen Morin (Leo Alonso-Kallscheuer), der davon träumt, eines Tages zum Mars zu fliegen. Mit der bestandenen Aufnahmeprüfung an einer „Junior Academy“ kommt er seinem Ziel einen großen Schritt näher; die Schule wird offenbar von einem Unternehmen aus der Luft- und Raumfahrtindustrie gefördert. Schon beim ersten Test in einer virtuellen Realität zeichnet sich der Junge durch eigenständiges Denken aus, indem er kurzerhand die VR-Brille lüftet und so eine unkonventionelle Lösung für die gestellte Aufgabe findet. Früh zeichnet sich ab, dass es am Ende zum Zweikampf mit einer ähnlich hochbegabten Mitbewerberin kommen wird, aber da hat der Konzern längst entscheiden, wer das Duell gewinnen soll; und Morin erkennt, was wirklich wichtig ist im Leben.

MorinFoto: BR / Hendrik Heiden
Die karrierebewusste Katja (Marlene Morreis) glaubt am besten zu wissen, was gut für Morin (Alonso-Kallscheuer) ist. Der Vater (Frederic Linkemann) sieht’s lockerer.

Die Botschaft klingt pädagogisch, was nicht weiter überrascht, denn Krause ist Pädagoge; außerdem auch Mitglied der Geschäftsführung des Kinderhauses Berlin Mark Brandenburg und Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen. Zuletzt hat er das Drehbuch für „Kalt“ (2022) geschrieben, ein Drama mit Franziska Hartmann als Erzieherin, deren Leben nach dem Verschwinden zweier Kinder in Scherben liegt. Im Unterschied zur optischen Düsternis dort ist die Anmutung von „Morin“ hell und freundlich. Tatsächlich gibt es zunächst auch keinen Grund für eine bedrohliche Bildsprache, selbst wenn der Auftakt eine andere Szenerie erwarten lässt: Die ersten Bilder zeigen die Erde aus dem All; der einstige blaue Planet leuchtet orange wie eine Apfelsine. Im Radio heißt es, die Lieferketten seien aufgrund von hitzebedingten Straßenschäden unterbrochen; die Lebensmittelversorgung in Deutschland sei jedoch nicht gefährdet. Außerdem fordere der Deutsche Gewerkschaftsbund Regelungen im Umgang mit künstlichen Intelligenzen. Als Morins Vater Steven (Frederic Linkemann) den Jungen an der Akademie absetzt, ist kurz eine Jahreszahl erkennbar: 2037.

„Morin“ gehört zum Science-Fiction-Subgenre „Near Future“. Der finanzielle Vorteil dieser Filme liegt auf der Hand: Technologisch mag sich innerhalb von 15 Jahren eine Menge ändern, aber die Ausstattungswelt muss nicht neu erfunden, sondern ebenso wie Kleidung und Frisuren bloß leicht modifiziert werden. Anders verhält es sich mit der Sprache: Dass die jungen Mitwirkenden Redewendungen wie „echt jetzt“, „nice“ oder „mega“ verwenden, klingt allzu sehr nach Gegenwart. Ein deutlich größeres Manko sind jedoch die darstellerischen und dabei insbesondere die sprachlichen Leistungen. Der Zauber jeder schauspielerischen Darbietung resultiert aus der Glaubwürdigkeit; dann kann selbst jemand ohne Abitur einen Nobelpreisträger verkörpern. Hier müssen die jugendlichen Ensemblemitglieder ständig Dialoge aufsagen, die mit Fachbegriffen gespickt sind. Dabei erwecken sie nicht immer den Eindruck, als ob sie wüssten, was sie von sich geben. Viele Sätze klingen zudem aufgesagt, was allerdings auch für einige der erwachsenen Ensemble-Mitglieder gilt.

MorinFoto: BR / Hendrik Heiden
Near-Future-Geschichte mit guter Ausgangsidee, doch nicht alles wurde stimmig umgesetzt. Yodit Tarikwa, Leo Alonso-Kallscheuer, Michael Kranz und Wiebke Puls

Trotzdem ist „Morin“ insgesamt sehenswert, zumal gerade der Zukunftsentwurf mit seinen wie selbstverständlich in den Alltag integrierten Hologrammen stimmig wirkt; die visuellen Effekte sind sehr überzeugend. Als Drehort für die Akademie fungierte das ESO Supernova Planetarium & Besucherzentrum in Garching bei München. Morins Mentorin ist eine Künstliche Intelligenz namens Leona (Yodit Tarikwa), die rund um die Uhr darauf achtet, dass sein Tun und Streben ausschließlich der Akademie gilt. Steven, ein eher entspannter Typ, beobachtet das mit Sorge. Mutter Katja (Marlene Morreis), eine karriereorientierte KI-Entwicklerin, weiß hingegen, dass man für seine Ziele Opfer bringen muss, zumal sie gerade ihrerseits von einer gleichermaßen ehrgeizigen wie skrupellosen jungen Kollegin überflügelt wird. Gegenentwurf ist Morins Großmutter (Michaela Rosen): Ida entwirft klangvolle Skulpturen, die aus Sicht des Enkels keinen offenkundigen Nutzen haben. Oma Ida will den Dingen eine Seele geben, denn das sei die Aufgabe von Kunst. Es ist ohnehin aller Ehren wert, dass sich der Bayerische Rundfunk eines solchen Themas annimmt; in dieser Form ist so ein Stoff in der Hauptsendezeit tatsächlich nur mittwochs im „Ersten“ denkbar. Der als Regisseur vorgesehene Christian Görlitz hatte das Drehbuch noch gemeinsam mit Krause bearbeitet, erkrankte dann jedoch schwer, sodass die Dreharbeiten verschoben werden mussten; nach seinem Tod im Januar 2022 übernahm Almut Getto die Regie.

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Fernsehfilm

ARD Degeto, BR

Mit Leo Alonso-Kallscheuer, Marlene Morreis, Frederic Linkemann, Yodit Tarikwa, Michael Kranz, Wiebke Puls, Michaela Rosen, Anouk Elias, Felicia Weinmann

Kamera: Willy Dettmeyer

Szenenbild: Maximilian Lange

Kostüm: Monika Hinz

Schnitt: Siao Lee Wang

Musik: Dürbeck & Dohmen

Redaktion: Claudia Simionescu (BR), Birgit Titze (Degeto)

Produktionsfirma: Odeon Fiction

Produktion: Monika Raebel

Drehbuch: Hans-Ullrich Krause, Christian Görlitz, Almut Getto

Regie: Almut Getto

Quote: 2,25 Mio. Zuschauer (9,1% MA)

EA: 22.11.2023 20:15 Uhr | ARD

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