Der zweite Film aus dem neuen „Mordkommission Istanbul“-Doppelpack, „Tödliche Gier“, funktioniert nach dem gleichen Krimimuster wie eine Woche zuvor „Der letzte Gast“: Nach dem Mord am Geschäftsführer eines der wichtigsten Bauunternehmen der Stadt verdächtigen Mehmet Özakin (Erol Sander) & sein Assistent Mustafa Tombul (Oscar Ortega Sánchez) erst den Sohn des Mannes, dann seine Witwe, anschließend eine frühere Geliebte, später seinen Stellvertreter, zwischendurch den Wortführer einer Künstlergruppe, schließlich den Chef des Opfers – und dann war’s jemand völlig Anderes; beim letzten Mal hatte Autor Horst Freund am Ende ebenfalls einen Täter aus dem Hut gezaubert, den keiner auf der Rechnung hatte.
Ähnlich entscheidend wie die Krimiqualität ist auch diesmal die Frage, wie die ARD Degeto mit der aktuellen Situation in der Türkei umgehen; und erneut wird sie komplett ignoriert. Dazu passt, dass Erol Sander, immerhin gebürtiger Istanbuler, im Pressematerial nicht nach seiner Sicht der politischen Lage befragt wird; statt dessen geht es um die Frage, wie die Menschen in einer Stadt mit 18 Millionen Einwohnern mit der ständigen Gefahr eines Erdbebens leben. Daraus hätte sich im Film eine schöne Metapher bilden lassen, aber Freund nutzt den Erdstoß, der sich tatsächlich irgendwann ereignet, nur für die romantische Horizontalerzählung: Özakin hat Rechtsmedizinerin Derya (Melanie Winiger) endlich zum ersten Rendezvous überredet, als plötzlich alles wackelt. Während die anderen Gäste in Panik das Lokal verlassen, findet sich das Paar in inniger Umarmung unter dem Tisch wieder. Für die eigentliche Krimihandlung spielt die Erdbebengefahr insofern eine Rolle, als der einflussreiche Bauunternehmer Kara (Ercan Durmaz) angeblich die erdbebensichersten Hochhäuser Istanbuls baut (wegen der Anschlagsgefahr ist „Tödliche Gier“ allerdings in Izmir gedreht worden). Der ermordete Geschäftsführer hat herausgefunden, dass Kara ein Betrüger ist; die finsteren Blicke, die ihm sein Stellvertreter Saygun (Erdal Yildiz) zuwirft, lassen schon in der ersten Szene erahnen, wie gefährlich dieses Wissen ist.
Freunds Drehbuch ist ähnlich handlungsreich wie „Der letzte Gast“; es gibt eine Vielzahl von Mitwirkenden, zumal Özakin und Tombul auch noch einen neuen Chef bekommen. Hamit Sancan (Ege Aydan) entpuppt sich als ehemaliger Ausbilder des Kommissars und brennt darauf, noch mal „Pulverdampf zu schnuppern“; beim Einsatz spielt er sich dann mit Baseballkappe und dicker Zigarre wie ein Popanz aus einem zweitklassigen Hollywoodfilm auf. Er spricht sogar mal von einem „politischen Erdbeben“, aber das ist nicht etwa eine Anspielung, sondern eine Warnung für Özakin, sich mit dem angesehenen Bauunternehmer anzulegen. Interessanter als der neue Chef, aber nur eine Nebenfigur ist ein Street-Art-Sprayer, der sich Neo nennt und zu einer Künstlergruppe gehört, die sich auf einem verlassenen Fabrikgelände eingenistet hat. Weil Kara hier eins seiner Projekte verwirklichen will, soll die Kolonie geräumt werden. Neo (Max Befort) ist außerdem der Sohn des Mord-Opfers und hatte darüber hinaus eine Affäre mit seiner Stiefmutter (Edita Malovcic). Sein Vater ist verbrannt, nachdem jemand einen Molotowcocktail auf sein Auto geworfen hat. Auf demselben Parkdeck in Sichtweite der Konzernzentrale hat Neo ein eindrucksvolles Kunstwerk hinterlassen, dass eine Variation der berühmten drei Affen zeigt: nicht ihre Hände, sondern Geldscheine sorgen dafür, dass sie nichts hören, sehen oder sagen können.
Das ist alles ganz interessant und funktioniert als Krimi recht gut. Nach wie vor großes Potenzial hat auch die behutsam aufgebaute Romanze zwischen Özakin und Derya. Handwerklich ist ebenfalls nichts gegen den Film zu sagen, aber ihm fehlt ein gewisser Biss. Regisseur Marc Brummund hat „Mordkommission Istanbul“ vor einem Jahr mit den Episoden „Der verlorene Sohn“ und „Ein Dorf unter Verdacht“ wieder in die Nähe der einstigen Harmlosigkeit gerückt. Im 20. Film taucht mit Tombuls Erzählungen von seiner Mutter sogar der Running Gag aus den frühen Filmen wieder auf. Die einzige Subtilität erlaubt sich der Film am Schluss, als Özakin beim zweiten Date noch mal Erdbeben spielt und dazu Lizz Wright’s Song „I feel the earth move“ ertönt. Ansonsten aber ist die Tatsache, dass Sender und Produktionsfirma die Zustände in der Türkei so völlig ignorieren, als wollten sie die Zuschauer bloß nicht mit Politik behelligen, schlichtweg ärgerlich. Sehenswert ist „Tödliche Gier“ daher vor allem wegen der deutschen Schauspieler mit türkischen Wurzeln, allen voran Ercan Durmaz als undurchsichtiger Gegenspieler. Erdal Yildiz dagegen trauert womöglich heute noch seiner Rolle in der wunderbaren Sat-1-Reihe „Blond: Eva Blond!“ nach. Seither muss er meistens eindimensionale Finsterlinge spielen; das ist in „Tödliche Gier“ nicht anders.