Staatsanwalt Manuel Bacher ärgert sich über sich selbst. Wie konnte er nur seine Frau betrügen – und dann ausgerechnet noch mit einer Kollegin, der ehrgeizigen Staatsanwältin Caroline von Studt. In dieser aufgewühlten Stimmung wird er in einem Park Zeuge einer handfesten Auseinandersetzung zwischen einem Junkie-Pärchen. Als der Mann die Frau würgt, geht Bacher kurz entschlossen dazwischen, streckt den Angreifer mit einer Flasche nieder und schlägt wütend auf ihn ein. Am nächsten Tag erfährt der Staatsanwalt, dass der Junkie tot ist. Was tun? Zur Polizei gehen? Auf Nothilfe hoffen? Der One-Night-Stand mit der Kollegin käme ans Licht. Und wie sähe das aus?! Gerade jetzt, wo seine Karriere in Gang kommt und er sich mit seiner Frau ein so luxuriöses Haus gebaut hat. Und wie würde sie reagieren auf den Seitensprung? Also schweigt er und vertuscht die Vorfälle. Doch dann steht auf einmal die ehemalige Drogenabhängige Joy vor seiner Tür. Sie hat ihn offenbar in jener Nacht gesehen. Ihr Freund, ein süchtiger Dealer, sitzt als Tatverdächtiger in U-Haft. Und auch die überengagierte Kollegin scheint einen Verdacht gegen ihren Konkurrenten zu hegen.
Foto: WDR / Frank Dicks
Eine Nacht, die den Lebensplan ins Wanken bringt. „Momentversagen“ erzählt von falschen, schicksalhaften Entscheidungen, die aus einem glänzenden Juristen und treuen Ehemann einen Ehebrecher, einen „unmoralischen“ Menschen, ja vielleicht sogar einen Mörder gemacht haben. Mit drei Frauen, die schwer einzuschätzen sind, bekommt es dieser Mann zu tun. Er taktiert, er versucht, sich durch alle Situationen zu lavieren. Da ist der biestige Druck der Kollegin, die Unverfrorenheit des Junkie-Girlies, das sich bald im Bacher-Bungalow einnistet, und da ist seine Frau, die schwanger ist und um die Früchte ihrer Ehe bangt. Felix Klare spielt diesen Bacher sehr überzeugend als einen, der drei Mal (Seitensprung, Verleugnung des Kampfs im Park, die Wucht, mit der er zuschlägt) nicht richtig handelt und nun die Rechnung dafür bekommt. Der Staatsanwalt wird mehr und mehr in die Enge getrieben – und es stellt sich für ihn irgendwann die Frage: „Wie soll ich weiterleben?“ Geplagt von Gewissensbissen, dass vielleicht ein Unschuldiger für ihn im Gefängnis sitzt, kann er sich nicht so leicht über sein Berufsethos hinwegsetzen: „Es geht um Moral, um Werte“, stammelt er, während seine Frau, die deutlich zu ihm steht, beschwichtigt: „Du weißt doch gar nicht, ob du es warst.“
Regisseur Friedemann Fromm über die Bildästhetik des Films:
„Von der Figurenzeichnung her erinnert mich ‚Momentversagen‘ an Filme der Schwarzen Serie. Wenn das ein Arthouse-Film hätte werden sollen, hätte ich ihn in Schwarz-Weiß gedreht. Jetzt haben wir mit HDR aufgenommen, das war unsere Annäherung an Schwarz-Weiß, ohne in eine Farbentsättigung zu gehen, die mittlerweile doch recht totgeritten wurde.“
Foto: WDR / Frank Dicks
„Momentversagen“ ist ein konzentriertes TV-Drama, das kaum mit dem Genre des Krimis liebäugelt, sondern das seiner Geschichte eine moralisch-psychologische Ausrichtung verleiht. Erzählt wird aus der Perspektive der Hauptfigur. Obwohl es für den Zuschauer ersichtlich ist, dass der Staatsanwalt in der unglückseligen Nacht deutlich überreagiert hat, begibt man sich emotional mit ihm in die verschiedenen Phasen der Vertuschung, von der Lüge bis zur scheibchenweise präsentierten Wahrheit. Man kann als Zuschauer die Wut dieser Figur verstehen. Anfangs ist es die Wut auf sich selbst. Die Wut, die Kontrolle verloren zu haben – zuerst bei der Kollegin (beim Sex mit ihr ging es ebenfalls um Aggression, Macht und Kontrollverlust) und dann im Park, nachdem ihn der Junkie provoziert hat, es nicht dabei zu belassen, sondern mit überzogener Gewalt zu reagieren. Felix Klare sieht in dieser Situation noch mehr gespiegelt: „Es ist eine Wut, die auch aus den vielen kleinen Kompromissen resultiert, die Bacher über all die Jahre für seine Beziehung und sein Leben eingehen musste.“ In dieser Nacht bricht sich bei dieser Lichtgestalt von Justitias Ehren Dunkles Bahn. Plötzlich wird der Kopfmensch fremd gesteuert von einem ihm bisher unbekannten Trieb. Klare: „Es ist eine Energie, die sich häufig in Aggression umwandelt – auf Grund von Leistungsstress, Zeitmangel, Erfolgsdruck oder eigenen Ansprüchen, die nie erreicht werden können.“
Friedemann Fromm über das HDR-Aufnahmeverfahren:
„Die meisten kennen das wahrscheinlich aus der Fotografie. Da wird nicht nur ein Bild gemacht, sondern es sind immer zwei – und diese Bilder werden dann wie beim Ton übereinandergelegt und können gemischt werden. Das heißt, man kann mit einer ganz anderen Form von Belichtungsumfang spielen, man kann die Farbgestaltung verändern… Wenn man jetzt den fertigen Film sieht, hat das eine ganz spezielle Form von Plastizität, einen unglaublichen Kontrastumfang.“
Foto: WDR / Frank Dicks
Dem Autor Norbert Ehry („Der große Abgang“) gelingt es, die Geschichte 90 Minuten geschickt in der Schwebe zu halten zwischen Moral-Diskurs, psychologischen Befindlichkeiten und einer Dramaturgie, die ganz auf Identifikation, Empathie und Spannung setzt. Man spürt die erfahrene Hand. Grimme-Preisträger Ehry, geboren 1948, gehört zu den renommiertesten Drehbuchautoren der letzten drei Dekaden. Immer wieder hat sich der „Tatort“-erfahrene Autor, der nie ein Vielschreiber war, realen Fällen und Justiz-Stoffen zugewandt. Auch Regisseur Friedemann Fromm ist einer, der den Zuschauer (und sein Unterhaltungsbedürfnis) immer mitdenkt, ohne diesen allerdings zu unterschätzen. Für den Männerkrimi „K3 – Kripo Hamburg: Auf dünnem Eis“ (2003) haben die beiden schon einmal hervorragend zusammengearbeitet. Damals wie heute findet Fromm eine kongeniale Bildsprache für die inneren Konflikte und das „Da-Sein“ der vier tragenden Charaktere. Reduktion ist das dramaturgische Grundprinzip des Scripts, Reduktion prägt auch den Stil seiner Inszenierung.
Die Kamera setzt die Menschen in Beziehung zueinander, Szenen- und Kostümbild verraten viel über die Psychologie der Figuren und sie erzählen eigene Geschichten. Da ist beispielsweise dieser futuristisch anmutende Neureichen-Klotz, der so gar nicht hineinpassen mag in die biedere 60er-Jahre-Architektur des Wohngebiets der Bachers. Man hat es geschafft – und man will es sich und den anderen zeigen. So richtig heimisch geworden allerdings ist das Paar in diesem Haus noch nicht. Und sicher ist es mehr nach ihren als nach seinen Vorstellungen gestaltet. In diese geordnete, abgeschlossene Welt des gehobenen Mittelstands bricht zwischenzeitlich das Prekariat in Gestalt eines ausgeschlafenen und gleichzeitig naiven Girlies ein. Schön zu sehen, wie es sich der Symbole der Mittelschicht bedient – Kleider machen Leute. Ehry tut gut daran, die Perspektive nicht zu verschieben von einer Geschichte über Moral und Schuld zu einem Sozialdrama, sondern den Blick allenfalls zu erweitern. Und genau das ist das besonders Starke an „Momentversagen“: Unaufdringlich, unaufgeregt erzählt er Vieles ganz beiläufig mit – man muss nur die Augen aufmachen. Das gilt auch für die Zeichnung der Figuren, vor allem für die im Verlauf der Handlung immer präsenter werdende „Frau an seiner Seite“, der Lisa Wagner in ihrer unnachahmlichen Art sehr präzise Konturen verleiht. Den Eindruck, den diese WDR-Produktion hinterlässt, den hat sie auch von ihrer Figur: „Es ist interessant, dass man bis zum Schluss nicht weiß, welche Motivation bei der Ehefrau die stärkste ist. Mutterinstinkt, die Angst alles zu verlieren, die Loyalität zu ihrem Mann – ist doch spannend, wenn sich das alles mischt.“ (Text-Stand: 29.9.2014)