Mitten in Deutschland: NSU – Die Opfer: Vergesst mich nicht

Almila Bagriacik, Tamer, Kilic, Stieler, Aladag. Ausgrenzung statt Unterstützung

Foto: WDR / Julia Terjung
Foto Thomas Gehringer

In Teil 2 der ARD-Trilogie über die NSU-Morde steht die Opfer-Perspektive im Zentrum. Konkret: die Geschichte der Familie des ersten Opfers Enver Simsek, die von der Polizei überwacht und verdächtigt wird. Doch im „Opfer-Film“ steht kein klassisches Opfer, sondern eine selbstbewusste, starke Frauen-Figur im Mittelpunkt. „Vergesst mich nicht“ beruht auf dem Buch von Tochter Semiya, die zu einer prominenten Stimme der Opfer-Familien geworden ist. Der Film ist eine emotionale Erinnerung an den geliebten Vater, eine beklemmende Schilderung der Polizei-Ressentiments und das fein gezeichnete Bild einer deutsch-türkischen Familie. Herausragende Hauptdarstellerinnen, ausgezeichnetes Drehbuch und eine sorgfältige Inszenierung. Ein Film über Ausgrenzung, der wütend macht.

Die Mutter ärgert sich über die Tochter, der Vater tadelt, aber seine gespielte Strenge wirkt nicht sehr überzeugend. Der Mittelteil des ARD-Dreiteilers „Mitten in Deutschland“ über die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) beginnt mit Alltagsszenen, mit Konflikten, wie es sie in vielen Familien gibt. Semiya Simsek (Almila Bagriacik) ist ein 14 Jahre junges Mädchen, das Rap-Musik hört, sich die Fußnägel lackiert und seine Mutter Adile (Uygar Tamer) nervt, weil es in den Ferien nicht fleißig genug mit anpackt. „Du musst deiner Mutter mehr helfen“, weist Vater Enver (Orhan Kilic) die Tochter an, doch die weiß genau, dass ihr Baba ihr nicht lange böse sein kann. Im Auto auf der Fahrt zurück ins Internat gibt’s das versprochene höhere Taschengeld und als Geschenk obendrauf ein Feuerzeug. „Für die Kerzen“, beteuert Semiya. Beide wissen, dass dies geschwindelt ist.

Mitten in Deutschland: NSU – Die Opfer: Vergesst mich nichtFoto: WDR / Julia Terjung
Das Unternehmerglück währt nur kurz. Adile (Uygar Tamer) & Enver (Orhan Kilic). Großes Foto oben: Aus Semiyas (Almila Bagriacik) Perspektive wird die „Opfer“-Geschichte erzählt.

Noch bevor der erste NSU-Mord geschieht und die Polizei anschließend aus dem Opfer Enver Simsek einen angeblichen Drogendealer und untreuen Ehemann macht, werden wir Zuschauer vom Gegenteil überzeugt. Aus der Perspektive der Tochter zeichnet die Inszenierung in wenigen Szenen das Bild vom liebevollen Vater und fürsorglichen Ehemann. Und das Bild einer ganz normalen Einwanderer-Familie, in der Deutsch und Türkisch durcheinander gesprochen wird. Die Eltern haben sich hier etwas aufgebaut, alle packen mit an bei „Blumen Simsek“, und wie in allen Familien sorgen sich die Erwachsenen um die Kinder. Das alles wirkt vielleicht etwas zu mustergültig, ganz so, als müsste die Familie heute noch gegen fremdenfeindliche Ressentiments verteidigt werden. Aber es ist nur konsequent, dem subjektiven Blick von Semiya Simsek zu folgen und zu vertrauen.

Das ausgezeichnete Drehbuch von Laila Stieler beruht auf dem Buch „Schmerzliche Heimat“, das Semiya Simsek und Peter Schwarz im Jahr 2013 veröffentlicht hatten. Die liebevolle Erinnerung der Tochter an den warmherzigen Baba – davon erzählt der Film zu Beginn und später in wenigen Rückblenden. Die Inszenierung von Züli Aladag bringt die persönliche Trauer ohne melodramatische Übertreibung zum Ausdruck. Außergewöhnlich schön sind auch die warmen, hellen Bilder von der türkischen Landschaft und dem Dorf, aus dem Enver Simsek stammt und in dem er nun beerdigt wird. Religion und Tradition fließen respektvoll und ganz selbstverständlich mit ein, ohne dass damit ein Kommentar verbunden wäre. Die ländliche Gemeinschaft steht damit im Kontrast zur kalten, tristen Welt, in der sich in Teil 1 der Hass der Neonazis entwickelt hat. Ihre Gewalt richtet sich unterschiedslos gegen alle, die sie als fremd, als nicht zugehörig zu Deutschland erachten. Enver Simsek baut im September 2000 seinen mobilen Verkaufsstand an einer Landstraße auf. Während er betet, stürmen zwei maskierte Männer zu dem weißen Transporter und schießen mehrfach auf Simsek, feuern ihm auch aus nächster Nähe ins Gesicht und fotografieren anschließend das Opfer. Den Mord zu zeigen, scheint unerlässlich, aber die Szene hätte auch aus einer etwas distanzierteren Kamera-Position ähnlich wirkungsvoll sein können. Die mutmaßlichen Täter Uwe Mundlos & Uwe Böhnhardt sind nicht zu erkennen und treten auch sonst nicht in Erscheinung – wohl aber ihre Opfer. Von allen weiteren Morden, bis auf den an der Polizistin Michèle Kiesewetter, wird hier auf die gleiche, vergleichsweise sensible Weise erzählt: Aladag inszeniert jeweils den Tatort, nicht aber die Tat selbst. Die Kamera bewegt sich langsam um die Ecken und auf die im Blut liegenden Leichen zu, was einen etwas übertrieben dramatischen Effekt hat.

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Adile (Uygar Tamer) und Hüseyin (Özgür Karadeniz) vor dem Präsidium. Die trauernde Ehefrau wagt nicht, an der deutschen Obrigkeit zu zweifeln.

Diese kurzen Szenen sind dennoch notwendig, nicht nur um das Ausmaß der Verbrechen zu dokumentieren, sondern auch weil jeder weitere Mord die Familie Simsek aufs Neue erschüttert. Der Film erzählt chronologisch bis 2012, zum Teil in Zeitsprüngen von mehreren Jahren, wobei Semiyas jüngerer Bruder Kerim erstaunlich schnell zu einem großen, kräftigen jungen Mann heranwächst. Da passte die Auswahl der beiden unterschiedlichen Darsteller nicht wirklich. Aladag verzichtet fast vollständig auf dokumentarische Bilder (bis auf einen Ausschnitt aus Angela Merkels Rede, in der sie sich bei den Opferfamilien entschuldigte). Beklemmend die Ressentiments und der Alltagsrassismus bei der Polizei, die mit zum Teil perfiden Methoden nach Beweisen für unsaubere Geschäfte und dunkle Geheimnisse des Opfers sucht. Adile wird das Foto einer angeblichen Geliebten vorgelegt, mit der ihr getöteter Mann gemeinsame Kinder gehabt haben soll. Das ist frei erfunden, und die falschen Angaben eines Drogenkuriers, der mit Simsek Rauschgift nach Holland transportiert haben will, werden gar nicht überprüft – weil sie die Vorurteile der Polizisten bestätigen. „Ich konnte mir das auch nicht vorstellen, aber es lag halt so nahe“, rechtfertigt sich Hegemann (André Hennicke) später gegenüber seinem Kollegen Bronner (Tom Schilling), der ihn als Ansprechpartner der Familie ablöst und endlich den ins rechtsextreme Milieu weisenden Spuren nachgehen will.

Auch die Ermittler sind hier starke, ausgezeichnet besetzte Nebenfiguren, die die Haltungen bei der Polizei differenziert repräsentieren: Hennicke ist der schwache Beamte, der zwar Sympathien für die Simseks empfindet, aber Auseinandersetzungen mit seinen Chefs scheut. Sascha Alexander Gersak verkörpert Höllerer, den unangenehm aggressiven Leiter der „Soko Halbmond“, der nur in Richtung Drogenkriminalität, Schutzgelderpressung und Ehrenmord ermitteln lässt. Und Bronner ist der junge, forsche Neue, der erst nach Jahren und gegen Widerstände die richtige Spur aufnimmt. Die hier angerissene Perspektive der Ermittler wird in Teil 3 der NSU-Trilogie fortgeführt, allerdings durch eine andere, vornehmlich in Thüringen angesiedelte Geschichte, in der Florian Lukas die Hauptrolle eines LKA-Beamten spielt.

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Vorurteile. Hegemann (André M. Hennicke), der Ansprechpartner der Familie, lässt sich von den gefälschten Indizien blenden… Uygar Tamer und Almila Bagriacik

Ungeheuerlich, dass die Saat der Neonazis eine Zeit lang aufgegangen ist. Die Familie Simsek erfährt nach der Gewalttat auf vielfache Weise Ausgrenzung statt Unterstützung. Sie wird verdächtigt, abgehört, ihre Wohnung wird durchsucht, alle Indizien gegen sie gewendet; auch die Medien verbreiten mit Schlagzeilen über „Döner-Morde“ bereitwillig die Mär von der Organisierten Kriminalität. Die Signale der Gesellschaft stehen auf: Ihr gehört nicht zu uns. Was dies für die Betroffenen bedeutet, wird schmerzhaft berührend erzählt. Die Figuren und das Familienleben sind sorgfältig gezeichnet, Stieler und Aladag schildern den großen Zusammenhalt und die Unterschiede zwischen den Generationen. Die trauernde Adile wagt nicht, an der deutschen Obrigkeit zu zweifeln. Sie beantwortet selbst peinlichste Fragen und glaubt schließlich, dass ihre Familie von Drogengeld gelebt hätte. Uygar Tamer spielt eindringlich diese zerrissene, leidende Frauen-Figur.

Während die zermürbte Mutter zunehmend Hilfe ihrer Angehörigen benötigt, wird Semiya reifer und erwachsen. Ausbildung, Studium, ein erster Verehrer – die junge Frau geht ihren Weg, wird aber durch die anhaltende Mord-Serie immer wieder mit dem ungesühnten Tod des Vaters konfrontiert. Eben keine klassische Opfergeschichte zu erzählen, darin liegt die besondere Stärke des „Opfer-Films“. Almila Bagriacik spielt diese selbstbewusste, unbeirrbare, bisweilen zornige Frau, die ihre Erinnerung an den Vater gegen alle Polizei-Theorien verteidigt, kraftvoll und mit großer Ausstrahlung. Die Geschichte von Semiya Simsek beispielhaft für alle Opferfamilien auszuwählen, liegt vielleicht ein bisschen allzu nahe, aber es gibt dafür gute Gründe. Zum einen weil damit der gesamte Zeitraum seit dem ersten NSU-Mord abgedeckt ist. Zum anderen weil sie mit öffentlichen Auftritten zur prominentesten Stimme der Familien geworden ist. Im Film wird die Demonstration im Mai 2006 inszeniert, bei der sie eine Rede hielt. Außerdem sieht man sie nachdenklich und nervös vor ihrem Auftritt bei der zentralen Gedenkfeier im Jahr 2012 in Berlin. Semiya Simsek tritt ins Scheinwerferlicht. Auch dies gehört zweifellos in den Film, denn für die Opferfamilien war es wichtig, sich endlich Gehör zu verschaffen. (Text-Stand: 1.3.2016)

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ARD Degeto, MDR, WDR

Mit Almila Bagriacik, Uygar Tamer, Orhan Kilic, André M. Hennicke, Tom Schilling, Sascha Alexander Gersak, Özgür Karadeniz, Vladimir Burlakov, Mert Dincer, Emilio Sakraya Moutaoukkill

Kamera: Yoshi Heimrath

Szenenbild: Peter Menne

Schnitt: Boris Gromatzki

Musik: Matthias Weber

Produktionsfirma: Wiedemann & Berg Television, Gabriela Sperl Produktion

Produktion: Max Wiedemann, Quirin Berg, Gabriela Sperl

Drehbuch: Laila Stieler

Regie: Züli Aladag

Quote: 2,34 Mio. Zuschauer (7,3% MA)

EA: 04.04.2016 20:15 Uhr | ARD

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