Mit Jan Georg Schütte, Charly Hübner und Regisseur/Autor/Produzent Lars Jessen steht ein eingespieltes Team hinter „Micha denkt groß“. Hübner drehte mit Schütte zuletzt die Impro-Komödie „Das Begräbnis“ (2022), mit Jessen die Romanverfilmung „Mittagsstunde“ (2022) und die Miniserie „Legend of Wacken“ (2023). Regie-Besprechungen zwischen den Dreien mag man sich so präzise und einsilbig vorstellen wie ein Kneipengespräch unter norddeutschen Altbauern. „Micha denkt groß“ bestellt sein Feld mit viel Witz, mit Totalen, die Luft reinlassen und einem dramaturgischen Gesamtbogen, der groß genug wäre, um den Dorfkosmos zu sprengen und romangroß zu erzählen. So groß wollten die Drei aber dann doch nicht denken. Klein-Schappleben verlässt nur einer – und das auch erst ganz zum Schluss.
Das Auge fliegt in Drohnenflügen über unbebautes Land, über staubige Pfade und über Felder in flirrender Hitze. So klein der Kosmos von „Micha denkt groß“ ist, so verlässlich suchen Kamera und Bildgestaltung immer wieder das Weite. Dazu landen wir in der Nahaufnahme bei einer toten Wespe oder einem abgestorbenen Baumstumpf im Zwischenschnitt. Gelber Sand, braune Erde, ausgebleichter Häuserputz: Blühende Landschaften waren hier nie. Das Draußen verortet die Bewohner des Dorfs im Reich der „Abgehängten“ und bebildert das Thema, das sie entzweit. Das Land ist zu trocken. Und trotzdem schön. Die sorgfältig inszenierte Wild-West-Ästhetik (auch der Sound setzt Country-Akzente) hat was Verwegenes, lässt Menschen einfach sein. Wäre da nicht die Ebbe im Brunnen. Mit der Wasserknappheit in Klein-Schappleben verdorren Michas Träume vom neuen Reichtum. Realität sickert in die Fiktion. Es geht um Größeres als aufeinanderprallende Trotzköpfe. In der Zeitspanne von fast einem Jahr skizziert „Micha denkt groß“ die Talfahrt von blühender Hoffnung über versiegende Quellen, fallende Blätter und Krähengelächter bis zu Jammer und Trost am Weihnachtsabend.
Hintergrund: Was bei „Micha denkt groß“ Impro technisch bedeutet
In sechs Tagen (plus ein Tag für die winterlichen Szenen) wurde pro Halbtag eine große Szene gedreht und an den Folgetagen nach Regie-Absprachen teilweise drei, viermal variiert. Eine Szene wird vorab so eingerichtet, dass die Kameras vor Ort auf alles reagieren können. Die Kameraleute sind miteinander und mit dem Regisseur verbunden. Sie dürfen sich nicht gegenseitig abschießen, müssen gegebenenfalls rechtzeitig aus dem Bild des anderen verschwinden. Das ist die Schwierigkeit. Schütte relativiert: Es kann schon mal Überschwenkungen geben, die kommen dann im Schnitt raus. Wenn es ganz hart kommt, muss man in der Postproduktion auch mal was rausretuschieren.
Klingt nach Drama und Elend, ist es dank des Ensembles aber nicht. Mittendrin strolcht der, immer noch mit allen auf Du und Du bekannte Micha mit seinen Logo-T-Shirts von Hof zu Hof. Wie Schalen einer Zwiebel sind ihm die letzten Jahre umgehängt. Braver Sohn und erfolgreicher Selfmademan – gescheitert, aber ein Stückchen reicher und in diesem Sinn naiv-optimistischer Heimkehrer. In der Eingangssequenz lädt Micha alle ein, vom Geld der West-Touristen zu profitieren. Genial, wie Hübner auf linkisch-sympathische Art im Spiel andeutet, wie der im Marketing-Sprech geübte Micha sichtbar gespannt die Reaktionen seiner Zuhörer beäugt. Da steht kein unsympathischer Investor, da steht ein kleiner Junge, der geliebt werden will. Das wird schwer. Während sich die Dorfbewohner im Streit verhaken, wächst Micha der Bart eines alternden Cowboys und auf die Fresse gibt’s auch. Bevor sie sich einladen lassen, Teil von Michas Vision zu werden, wollen die im Dorf erstmal ihre Existenz gesichert wissen.
Bürgermeisterin Moni (Annett Sawallisch mit Merkel-Sakko und Puck-Brille) kann viel versprechen, aber nichts halten. Machen statt versprechen ist dagegen Tinas Devise. Jördis Triebel („In einem Land, das es nicht mehr gibt“, 2022), in Ost-Frau geschult, spielt Michas Schulfreundin zupackend, herzlich und charmant. Die Unverwüstbarkeit in Person trägt den Haarzopf seitlich und kaut Kaugummi. Massierend oder trainierend geht sie, je nach machbarer Zusatzausbildung, durchs Leben. Im Kleinen ist Tina das Pendant zu Micha: Selfmade-Frau auf Mindestlohnniveau. Selbstverständlich sieht Micha sie als Spa-Chefin in spe. Gut, dass Tina auch verzeihen kann. Die größten Gegner des Hotel-Projekts verkörpern Peter Kurth als Halbärmel-Hemd tragender Landwirt Hermann und Regisseur Schütte als Ex-Lehrer Bernd Schlüter. Peter Kurth schafft es wie so oft, einen Menschen mit Schicksal fast ohne Worte lebendig werden zu lassen, Schütte staubschillert mit wirrem Haar und akkurat eingesteckten Halstuch aus Seide durchs Bild. Auch seine Figur ist mehr als festgelegte Type. Was zu Anfang als vermeintlich fortschrittlich denkender Cordhosenträger mit intellektuellem Hintergrund rüberkommt, lässt Schütte als Verschwörungs-Fan und Kellerkind mit Stolz auf 270 Follower enden. Mehr als alle anderen ist Schlüter eine arme Sau.
„Die Idee von Impro ist, dass alle Beteiligten, also auch die Sender, nur wissen, war vor dem Film passiert ist. Wir schreiben ein Drehbuch ohne Dialoge. Die Schauspieler kennen es nicht. Die wissen nur, wer sie sind und was sie wollen. Erst nach dem ersten Durchgang wissen alle, was passieren wird. Der Dreh ist ein permanentes Aus-dem-Ruder-laufen. Das ist das Interessante.“ (Lars Jessen)
„Wir waren in einem Gasthof in der Altmark untergebracht. Lars und ich haben uns da einen Raum eingerichtet. Den haben wir das Arztzimmer genannt. Am Vorabend wurden alle Schauspieler einzeln reingebeten und wir haben ihnen erzählt, was am nächsten Tag passieren wird. Das mit den Überraschungen funktioniert auch andersherum. Die Schauspieler denken sich zu ihrer Rolle oder für ihr Gegenüber etwas aus, wovon ich vorher nichts weiß.“ (Jan Georg Schütte)
Über vergnügliche 92 Minuten und gelungene Impro-Dialogen nimmt Charly Hübner alias Micha Abschied von seinen Visionen. Schon wenn er das erste Mal in sorgfältig ausgestatteter Verlodderungs-Kulisse in den Fernsehsessel fällt, ahnt der Zuschauer, worum es hier wirklich geht. Da wo Erfolgsstoffe wie „Unter Leuten“ das Trennende betont, geht es „Micha denkt groß“ um das Aufgefangen-Sein. Inklusive Ost-Romantik und West-Klischees. Damit und mit den ständig präsenten Folgen der Klimakrise entfernt sich der Film, der nach dem Bernd Burgemeister Preis beim diesjährigen Münchner Filmfest ab dem 22.08 eine kleine Kino-Auswertung bekommt, vom puren Klamauk. Seine Zuschauer entlässt „Micha denkt groß“ ohne Spa-Effekt, aber mit dem wohligen Gefühl von Kinderspaß im Bällebad.