So langsam sollte eigentlich Ruhe einkehren. Erik (Christoph Maria Herbst) und Anne (Annette Frier) sind längst geschieden, ihr Sohnemann Leon (Philipp Noah Schwarz) hat geheiratet, der demente Ludwig (Michael Wittenborn) hat sich mit dem betreuten Wohnen arrangiert und immer mal wieder helle Momente, und seine Frau Maria (Claudia Rieschel) macht Therapie, will „vergeben und vergessen“. Doch nicht mit Anne; der geht ihre unbedarfte Mutter mehr denn je auf die Nerven. Wenig später ist es wieder ihr Vater, der für Aufruhr sorgt. Weil die Eventagentur, die Anne mit ihrem neuen Lebenspartner Jonas (Nikolaus Benda) betreibt, eine Geldspritze benötigt, kommt die Idee des vorzeitigen Erbes auf. Beim Notar platzt dann die Bombe: Ludwig hat eine uneheliche Tochter, lustigerweise heißt auch die Anne (Anne Weinknecht). Anne I vergeht das Lachen, und bei Maria ist es auch nicht mehr weit her mit ihrem Mantra „vergeben und vergessen“. Selbst Eriks Eltern, Günter (Bernd Stegemann) und Renate (Carmen-Maja Antoni), haben nicht nur naiven Optimismus und Kalendersprüche auf Lager, auch sie haben ein Geheimnis, eines, das selbst der oft so unsensiblen Anne Tränen in die Augen treibt. Auch wenn der Abstand größer wird, der Familie kann man nicht kündigen. „Familie ist besser als nix“, meint Renate. Und so gibt es ab sofort bei den Merzens – auch wenn nicht immer alle wollen – regelmäßige Familientreffen.
Ehekrieg, Scheidung, Demenz – klassische Comedy war „Merz gegen Merz“ noch nie. Als die Familiengeschichten noch als Serie erzählt wurden, ging Headautor Ralf Husmann von Staffel zu Staffel immer mehr dorthin, wo’s wehtut. Mit Ironie und Zynismus machten die Protagonisten ihre Probleme, Krisen und Verletzungen für sich erträglich und für den Zuschauer zu einem großen Vergnügen, obwohl oder vielleicht gerade, weil vieles beziehungs- und familientechnisch extrem anschlussfähig war. In „Geheimnisse“ ist der dysfunktionale Clan endgültig im Tal der Tränen angekommen. Allen Figuren ist der Spaß am Leben abhandengekommen. Nur kurzzeitig wird von der therapieberauschten Maria das Hohelied auf die Familie gesungen. Wenig später entfacht der Seitensprung ihres Göttergatten eine höllische Wut in ihr, bevor sie in ihre gewohnte Lethargie zu verfallen droht. In der hat sich der frustrierte Erik schon länger eingerichtet: „Familie, Liebe, das sind alles so Ideen … wie Gott. Das gibt’s alles nicht“, sinniert er stumpf vor sich, stets ein Bierchen in Reichweite, ein Rotweinglas schwenkend oder im Notfall auch was Härteres dabei. Er droht, langsam zu verwahrlosen. Und ob Jungspund Jonas der Richtige für Anne ist? Der quittiert alles ständig mit „cool“, für was Anne nur ein Wort kennt: „Scheiße“. Anne II, die alles und jeden sofort umarmen möchte, könnte dieser emotional verlotterten Familie guttun. Oder ein Hund.
„Geheimnisse“ ist nach den drei „Merz gegen Merz“-Serien-Staffeln (2019-21) und nach „Hochzeiten“ (2023) nun der zweite 90-Minüter des Herzensprojekt von Ralf Husmann, der bei den beiden Filmen nun auch als Produzent verantwortlich zeichnet. „Geheimnisse“ mag von allen „Merz gegen Merz“-Beiträgen die Produktion mit dem geringsten Unterhaltungswert im klassischen Sinne sein, dafür aber ist sie die vielleicht wahrhaftigste, nicht weil der Film der ernsthafteste ist (und das Schwere mehr wiegt als das Leichte), sondern weil er die bisherigen Geschichten dieser Familie außerordentlich schlüssig fortführt: Eine gescheiterte Ehe ist nie schön, Versuche, ein neues Glück zu finden, bewegen sich häufig am Rande der Lächerlichkeit – und Krankheit und Altwerden sind bekanntlich nichts für Feiglinge. Ach ja, und der Nachwuchs hat sich in der Regel nur die schlechtesten Eigenschaften der Eltern abgeguckt. Das gilt nicht nur für Leon, sondern ein Stück weit auch für Anne. Beleidigte Leberwürste und mangelndes Selbstvertrauen jedenfalls findet man zur Genüge in dieser Familie. Resultieren sie aus Erziehungsdefiziten und schlechten Vorbildern oder sind überkommene Geschlechterrollen schuld? Dass einem diese Eigenheiten und kleinen Schwächen mit häufig großen Wirkungen nicht neunmalklug erklärt oder sie bis zur bittersten Konsequenz ausagiert werden, das unterscheidet diese wunderbare Tragikomödie dann eben doch entscheidend von einem Familien-Drama. Schmerzliche Momente gibt es dennoch reichlich. So kommt es bei der finalen Familienfeier in Annes Eventagentur zu ausgesprochen anrührenden, aber kein bisschen rührseligen Szenen zwischen Anne und ihren Eltern. Ganz zart und leise gespielt, dass man auch als Zuschauer eine Träne wegdrücken muss.
Diese versteckte Träne ist das Geheimnis hinter „Geheimnisse“. Diese mögliche emotionale Verbindung mit dem Zuschauer, unterscheidet einen Film, den man für seine professionelle Machart lobt, von einem, den man darüber hinaus auch für eine geraume Zeit in seinem Herzen trägt. Klingt etwas pathetisch. Gemeint ist: Während beispielsweise eine präzise, perfekt getimte Komödie für Lacher oder Dauerschmunzeln sorgen kann, gibt es mitunter Filme, die einen persönlich emotional berühren, die eigene Lebenserfahrungen triggern und einen auf seine eigene Geschichte, auf Bilder, Situationen, Gefühle, zurückwerfen. Eine besondere Qualität, wie ich finde. Kritiker geben diesem subjektiven Faktor selten Raum. Es gehört nicht zum Selbstverständnis von Filmkritik, schon gar nicht Fernsehkritik, sich auf dieser Ebene zu bewegen, die allerdings einen Großteil der Faszination eines Films ausmachen kann. Es spricht also besonders für „Geheimnisse“, dass es diesem von Felix Stienz trotz der vielen emotionalen Baustellen so ungemein flüssig inszenierten 90-Minüter gelingt, über präzise Charakterbilder, über nuancierte Situationstragikomik und vielschichtige Monologe und Dialogwechsel, ja, über die Wahrung der Dramedy-Distanz hinaus, nachhaltig Gefühle beim Kritiker zu wecken. Das klappt deshalb so gut, weil Husmann Familienbeziehungen in ihrer ganzen Tiefe und Zeitgeistigkeit begreift und die Themen nicht vordergründig setzt. Das macht „Merz gegen Merz“ (ähnlich wie „Vorübergehend glücklich“, Husmanns letzte Arbeit) umso wertvoller in einer Zeit, in der Familie in der TV-Fiktion nur noch herhalten darf als Drama-Beilage im Krimi oder als inhaltsleere Erzählfunktion in Alles-wird-gut-Szenarien.