Ist Volker (Fabian Hinrichs) tatsächlich ein so „lausiger Vater“, wie seine Ex-Frau Sandra (Patrycia Ziolkowska) ihn seiner Tochter gegenüber gern darstellt? Jetzt kann die 17jährige Daphne (Clara Vogt) sich selbst ein Bild machen, während der etwas weltfremde Lektor eines Enzyklopädie-Verlags nach Jahren relativer Funkstille zwischen ihm und seiner Tochter an seiner Vaterrolle arbeiten kann. Bei einem Urlaub auf Kreta will er Versäumtes nachholen. Doch alles braucht seine Zeit. „Es ist kompliziert“, sagt Volker. Eine Postpubertierende und ein Liebhaber der minoischen Kultur, Detailwissen über Mythen und griechische Götter inklusive, das passt erst zusammen, als sich beide dem anderen Geschlecht zuwenden. Daphne und Barkeeper Dimitri (Michalis Psalidis) kommen sich schnell näher, und Volker verguckt sich in die schöne Barbara (Erika Marozsán), die vor Jahren in dem kleinen Dorf auf Kreta gestrandet ist, um fortan mit Manolis (Dimitris Imellos), Herr über 500 Ziegen, zusammenzuleben; zum Leidwesen der kretaphilen Schmuckverkäuferin Renate (Deborah Kaufmann). Beide Frauen lassen Volker kurzzeitig die Sorge um seine Tochter vergessen, die mächtig vom Sex-Appeal ihres „Provinz-Apolls“ hingerissen ist. Doch Volkers Flirt ist ein Spiel mit dem Feuer; der eifersüchtige, schießwütige Dorf-Zampano jedenfalls liebt die Jagd.
Die griechischen Schauspieler, die vor Ort gecastet wurden, werden die Rollenbilder der archaisch hinterwäldlerischen Machos, denen die Ehre der Familie alles bedeutet, sicherlich verzeihen, die der renommierte Autor Karl Heinz Käfer mit Hang zum Fernweh („Jahr des Drachen“, „Herr Lenz reist in den Frühling“) ihnen zugedacht hat: Schließlich handelt es sich bei „Meine Tochter, Kreta und ich“ um eine leichtfüßige Alltags-Dramödie, die genussvoll mit kulturellen Klischees jongliert, aber gleichzeitig auch viele kleine zwischenmenschliche Wahrheiten präsentiert. Käfer verzichtet erfreulicherweise auf ein Hauptthema, webt vielmehr anschlussfähige Alltagserfahrungen ineinander: die Differenzen der Generationen und der Geschlechter, modernes und traditionelles Familienverständnis, Natur vs. Kultur, Wissen vs. Leidenschaft, Denken vs. Fühlen. Verhandelt wird das Meiste in knappen, stimmigen Dialogen. Und natürlich spielt die Liebe auch eine gewichtige Rolle: die Liebe zur Tochter, die erste Urlaubsliebe, die erste Verliebtheit nach Jahren der „Vorsicht“. Die Vielzahl an wunden Punkten und geliebten Passionen der Hauptfiguren, die in der anfangs von der Urlaubs-Dramaturgie des Sich-Treibenlassens beeinflussten Handlung beiläufig zur Sprache kommen, sorgen gleichermaßen für Realismus, also Alltagsnähe, und für großen Unterhaltungswert.
Und so fühlt man denn auch mit jenem Volker durchaus mit, amüsiert sich andererseits aber auch über seine Gutgläubigkeit, seine Naivität, seine deutsche Ehrlichkeit. Dieser Intellektuelle trägt sein Herz auf der Zunge, weil er zu jener Spezies Mensch gehört, die gerne redet (über Probleme), um sich so selbstkritisch zu hinterfragen und um sich bei Dritten unbewusst die Absolution zu holen. Unter diese Eigenschaft fällt – neben der pragmatischen Funktion für die Narration – selbst auch seine Rolle als Erzähler. Dieser Mann will sich erklären vor anderen und ringt auf diese Weise um die eigene Erkenntnis. Das passt so gar nicht zum Freitagabendfilm in der ARD, in der Erkenntnis meist sehr direkt an ein (soziales) Thema und eine eindeutige Moral gebunden sind. Der (Anti-)Held zieht immer wieder Zwischenbilanz: „Ich bin gescheitert – als vernunftbegabtes Wesen und als Vater“ und dann sagt er sogar „Die Liebe wird im Allgemeinen überschätzt“, um sich wenig später darüber zu mockieren, dass er diesen Satz gesagt habe. Wer könnte eine solche „ja aber“-Rolle zwischen Selbstgewissheit und Selbstzweifel, nicht ganz frei von narzisstischer Grübler-Pose, besser verkörpern als Fabian Hinrichs, der als liebenswerter Alles-Zerdenker und Alles-Zerreder im Franken-„Tatort“ (seit 2015) brilliert und zuletzt als Besser-Wessi in der ARD-Serie „ZERV – Zeit der Abrechnung“ seine sehr spezielle künstlerische Duftmarke hinterlassen hat.
Soundtrack: Joe Cocker („With A Little Help From My Friends“), Righteous Brothers („Unchained Melody“), Bill Withers („Ain’t No Sunshine“), Marvin Gaye & Tammi Terrell („Ain’t No Mountain High“)
„Meine Tochter, Kreta und ich“ widersetzt sich so gut wie in allem den Unterhaltungsfilm-Konventionen und dramaturgischen Regeln, die für ARD-Freitagsfilme typisch sind, ja selbst zwischen der besseren ZDF-„Herzkino“-Reihe „Ein Sommer“ und diesem „Urlaubsfilm“ von Nina Grosse („Die Protokollantin“, „Nicht tot zu kriegen“) liegen Welten. So bleiben Zwischenstationen sowie der Ausgang der Geschichte unvorhersehbar; immer wieder überrascht Käfer mit unerwarteten Wendungen. Dramaturgisch erinnert das Muster ein wenig an eine Chaos-Komödie wie „Die Zeit nach Mitternacht“, allerdings ohne diesen Aberwitz und das enorme Tempo. „Ich bin doch nur ein einfacher Programmierer“, jammert bei Scorsese gegen Ende der Antiheld. „Ich wollte doch nur mit meiner Tochter einen schönen Kreta-Urlaub machen“, sagt jener Volker im Film zwar nicht, aber er denkt es möglicherweise. Auf jeden Fall ist der leicht pedantische Lektor am Ende reichlich ramponiert – mit folgendem Lerneffekt: Der Enzyklopädist akzeptiert die Unordnung als Lebensprinzip. Der Kreta-Urlaub ist dafür Mittel zum Zweck. Das spiegelt sich auch in den Bildern: keine Panorama-Schwenks, keine Postkarten-Shots, aber auch keine Touristen-Herden. Die Kreter sind in der Überzahl. Mag sein, dass Corona für diesen Effekt verantwortlich ist; dem Film jedenfalls tut es gut. So wie die Landschaft, die einfach da ist und gezeigt wird, weil der Mensch sich in ihr bewegt (und genauso von Petzold-Kameramann Hans Fromm gefilmt wird), nicht weil sie etwas bedeuten oder die Zuschauer in eine bestimmte Stimmung versetzen soll. Die Sinn-Ebene des Films etablieren Käfer & Grosse im Kopf der Hauptfigur. Und so stören oder nerven im Gegensatz zu vielen Komödien die Kommentare nicht, sondern liefern Erkenntnis und sind Quell des trocken-ironischen Witzes, der für Fabian Hinrichs Rollen so typisch ist.