„Ich denke, dass sich später keiner für die Herzensergüsse eines 13-jährigen Mädchens interessieren wird“, schrieb Anne Frank anfangs in ihr Tagebuch. Doch nach langen Monaten im Versteck träumte sie davon, nach dem Krieg einen Roman über das Leben im Hinterhaus zu schreiben. Und tatsächlich gehören die Aufzeichnungen des ermordeten jüdischen Mädchens, das sich mit seiner Familie mehr als zwei Jahre in einem Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht versteckte und im März 1945 im KZ Bergen-Belsen starb, zu den meistgelesenen Zeugnissen der Shoah. Das in 70 Sprachen übersetzte „Tagebuch der Anne Frank“ ist Weltliteratur und mehrfach verfilmt worden, zuletzt als Mini-Serie der BBC (2009)
Foto: HR / AVE / Janett Kartelmeyer
Erstaunlicher Weise ist das Dokudrama „Meine Tochter Anne Frank“ die erste deutsche Film-Produktion. In Vorbereitung ist außerdem ein Kinofilm unter der Regie von Hans Steinbichler, ebenfalls in der Verantwortung der Produktionsgesellschaft AVE, die zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck gehört und die die Filmrechte am Tagebuch hält. Schon im Vorfeld gescheitert war dagegen ein Projekt von Oliver Berben fürs ZDF, das auf Widerstand des die Erben vertretenden Anne-Frank-Fonds‘ gestoßen war. Das Vorgehen der AVE ist interessant: Statt eines weiteren „Amphibienfilms“, bei dem es wie etwa bei Heinrich Breloers „Buddenbrooks“ neben einer Kino- auch eine meist deutlich längere TV-Fassung gibt, wurde die filmische Umsetzung für die große Leinwand (gemeinsam mit Zeitsprung Pictures) und für den kleineren Fernsehschirm (unter der redaktionellen Federführung des Hessischen Rundfunks) getrennt. Zwei unterschiedliche Teams arbeiten mit dem Stoff, und es wird spannend sein zu sehen, welche Lösungen für die verschiedenen Formate gefunden werden.
Das Fernsehen hat jedenfalls mit einer starken Inszenierung vorgelegt. „Meine Tochter Anne Frank“ könnte als Kammerspiel mit dokumentarischem Anspruch durchaus im Kinosaal bestehen, ist aber als ein Stück historischer Aufklärung, das bis in die Wohnzimmer des Publikums vordringt, im Fernsehen gut aufgehoben. Regisseur Raymond Ley – das Drehbuch schrieb er gemeinsam mit seiner Frau Hannah – stellt dabei nicht allein Anne Frank in den Mittelpunkt, sondern auch ihren Vater Otto, den einzigen Überlebenden der achtköpfigen Gemeinschaft im Versteck – und denjenigen, der nach dem Krieg die Bedeutung des Tagebuchs erkannt und für deren Verbreitung gesorgt hatte. Die Dramaturgie umfasst Zeitsprünge und Rückblenden, orientiert sich in der großen Linie aber an der Chronologie des Tagebuchs beziehungsweise der Ereignisse im Versteck. Götz Schubert spielt Otto Frank als buchstäblich feinen Herrn, als Mann der leisen Töne, liebevoll zu seiner Familie, immer um Ausgleich in den engen Lebensumständen des Verstecks bemüht und selbst dann ohne jede Grobheit, wenn er nach dem Krieg den Nazi-Kollaborateur Ahlers in die Schranken weist.
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Das besondere Vater-Tochter-Verhältnis verleiht dem Film eine zusätzliche Emotionalität, zumal es gewissermaßen den Ursprung der gewaltigen Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs bildet. Mit Verwunderung und Rührung liest Otto Frank die Blätter, die seine Sekretärin Miep Gies gerettet hat. Er trägt einzelne Passagen Freunden vor, und es scheint so, als würde er erst bei der Lektüre den erlittenen Verlust seiner Tochter so richtig begreifen. Verschwiegen wird aber auch nicht, dass Otto mit dem Stift korrigierend eingriff, wenn seine Tochter abfällig über ihre Mutter schrieb. Die Spielszenen erzählen von Anne Frank aus verschiedenen Perspektiven und reflektieren somit auch ihre Bedeutung nach dem Tod: Wir sehen sie als träumerisch-verklärte Erinnerung des Vaters, als am Schreibtisch sitzende Chronistin der Zeitgeschichte – dann verwandeln sich die Wände ihres Zimmers zu Leinwänden, auf denen historische Wochenschau-Bilder eingeblendet werden – und natürlich als Schriftstellerin, die das Zusammenleben im Versteck eindringlich schildert. Mal wird aus ihrem Tagebuch zitiert, mal werden die darin beschriebenen Ereignisse in Szene gesetzt.
Im Abspann heißt es: „Alle inszenierten Teile sind dokumentarisch belegt. Spielszenen können nur eine Annäherung an das wirkliche Geschehen sein.“ Raymond Ley hat einige Erfahrung mit dem Genre Dokudrama, und wie in „Die Nacht der großen Flut“, „Eichmanns Ende“ oder „Die Kinder von Blankenese“ haben Spielszenen ein klares Übergewicht – und werden mit Sorgfalt inszeniert: die Enge im Versteck; die Spannungen zwischen den Familien oder den Eheleuten; das Entsetzen – oder das Glück – über die Nachrichten aus dem Radio; die Furcht, entdeckt zu werden. Und auch das etwas anstrengende Gebaren der gerne im Mittelpunkt stehenden Anne, die von der jungen Schauspielerin Mala Emde lebhaft und scharfzüngig gespielt wird. Ihre Anne ist ein talentiertes, aber besserwisserisches Gör, das den anderen bisweilen auf die Nerven geht. Am wenigsten ihrem Vater – und Peter van Pels, mit dem sie auf dem Dachboden nach anfänglicher Abneigung Küsse tauscht und über Sexualität redet. Ein pubertierendes, neugieriges Mädchen, das sich auch mal in kitschige Träume flüchtet.
Foto: HR / AVE / Janett Kartelmeyer
Bei dieser filmischen „Annäherung“ halten sich die Leys dicht an die wichtigste Quelle, das Tagebuch. Außerdem setzen sie eigene Interviews mit den letzten noch lebenden Menschen ein, die Anne und Otto Frank persönlich kannten. Hinzu kommen Ausschnitte aus früheren Interviews mit den verstorbenen Otto Frank & Miep Gies. Ihre O-Töne sind nie Selbstzweck, sondern immer konkret auf Spielszenen und Tagebuch-Passagen bezogen. Das Ergebnis der klugen Montage ist eine abwechslungsreiche Film-Erzählung. Andere Protagonisten, darunter auch Annes Mutter und ihre Schwester Margot, bleiben allerdings wie eh‘ und je Randfiguren.
Hannah und Raymond Ley beschäftigen sich zudem mit der bis heute nicht geklärten Frage, wer das Versteck verriet. Neue Erkenntnisse haben sie nicht, entsprechend widersprüchlich wirkt die Inszenierung. In einem nachgestellten Treffen mit einem Journalisten (Axel Milberg) gibt SS-Oberscharführer Karl Silberbauer 1962 ausweichende Antworten. Die Leys führen die bekannten Verdächtigen vor, die misstrauische Putzfrau unten im Lager, der besonders misstrauische Lagerverwalter, der Mehl streute und andere Fallen stellte, und vor allem der fiese Ahlers, der untergetauchte Juden gegen Geld an die SS verriet. Vom Terror jener Zeit, auch von den letzten, leidvollen Stationen der Franks in Auschwitz und Bergen-Belsen, erzählt der Film eher nüchtern und sogar mit zurückhaltender musikalischer Begleitung. Das Ende ist nicht ohne Pathos, aber surreal-verfremdend inszeniert. Wenn die Schauspielerin Mala Emde wie aus der Zeit gefallen im Gras liegt, auf Gleisen balanciert oder über die Lagerstraße von Auschwitz geht und, vorsichtig den Stacheldrahtzaun berührend, aus dem Tagebuch der Anne Frank rezitiert, sehen wir ein Mädchen, dessen Wunsch Wirklichkeit geworden ist. „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“, hatte Anne Frank geschrieben. Die Archivbilder von Skeletten, die in ein Massengrab geworfen werden, stellen sich jedoch auf drastische Weise einer allzu romantisierenden Erinnerung an eines der bekanntesten Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns in den Weg. (Text-Stand: 10.1.2015)