Susanne Brendel (Steffi Kühnert) ist schwer für Neues zu begeistern. Die Angestellte in einem paläontologischen Museum wurde nach über 30 Ehejahren von ihrem Mann verlassen. Sechs Monate ist das schon her – und noch immer läuft sie wie paralysiert an der Realität vorbei. Außer ihrer Freundin Maria (Johanna Gastdorf) weiß niemand von der Scheidung, nicht einmal die ihr überaus wohlgesonnene Chefin Andrea (Katharina Marie Schubert), für die Susanne und ihr Peter noch immer der Inbegriff eines glücklichen Paars sind. Selbst das von Susanne heiß geliebte Synchron-Wasserballett ist zu einem traurigen Zweier mit Maria verkommen und soll wegen Ineffizienz dem Seniorenschwimmen weichen. Dafür zieht neues Leben in das Berliner Mehrfamilienhaus ein, in dem Susanne seit vielen Jahren wohnt. Doch die stille Frau in Grau geht erst mal auf Abstand zu ihren neuen Nachbarn – begünstigt durch eine sabbernde Bordeauxdogge, aber auch durch die Mieterin, Kim (Zoe Valks), eine alleiner-ziehende Mutter, die ihr noch wie ein Teenager vorkommt. Ihr erster Eindruck: „Total übergriffig und unerzogen und laut und liederlich – das sind totale Chaoten.“ Und in den Augen der neuen Nachbarin ist Susanne eine „verklemmte Spießer-Oma“. Allerdings, Saphir, die achtjährige Tochter (Theodora Tetzlaff) hat es Susanne angetan. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Beide teilen ein ähnliches Schicksal. Sie fühlen sich oft alleingelassen.
Foto: Degeto / Conny Klein
„Meine Nachbarn mit dem dicken Hund“ erzählt eine Geschichte, wie sie sich tagtäglich irgendwo in der Dreieinhalbmillionen-Stadt Berlin ereignen könnte. Eine Frau, Mitte 50, kommt mit ihrem plötzlichen Single-Status nicht zurecht. Als neue Nachbarn den gewohnten, liebgewonnenen Alltag etwas durcheinanderbringen, werden auf beiden Seiten Vorurteile aufgefahren. In der Wirklichkeit würde man sich aus dem Weg gehen, weiterhin seine Ressentiments pflegen und im besten Falle aus dem negativen Gegenbild Kraft für die eigene Identität ziehen. In Filmen hingegen kann man die Figuren einem Lernprozess unterziehen. Autorin Kathi Liers zeigt, wie bei den beiden ungleichen Frauen Vorurteile geweckt werden, wie sie sich zu Konflikten auswachsen und wie Missverständnisse oder ein geringes Selbstwertgefühl einer Lösung im Weg stehen. Dass im Schlussdrittel eine extreme Krisensituation die junge Frau, die sich nicht gern abhängig macht, und die ältere Dame, die es eigentlich gut meint mit den neuen Nachbarn, es aber nicht richtig vermittelt bekommt, zur Einsicht zwingt, das ist zwar ein dramaturgischer Standard, wirkt in dem Film von Ingo Rasper aber keineswegs störend. Im Gegenteil. Diese beiden Frauen haben sich den Zuwachs an Glück verdient. Und so nimmt man es gern hin, dass die gerade noch als „verbitterte, verlogene, einsame, alte Frau“ beschimpfte Susanne mit der Frau, von der sie da so offen angepflaumt wird, auf dem Sofa sitzen und ihre Wunden lecken. Einige Zuschauer werden es ja schon bemerkt haben. Susanne wie Kim hören nicht gern auf andere, ziehen sich lieber zurück, wenn es in Beziehungen problematisch wird. Und beide wurden von den Vätern ihrer Kinder verlassen. So glaubwürdig wie in „Meine Nachbarn mit dem dicken Hund“ geraten Versöhnungen und (zwischen)familiäre Zusammenführungen in Fernsehfilmen nur selten.
Soundtrack: Aretha Franklin („Suzanne“), Spice Girls („Wannabe“), George McCrae („Rock your Baby“), Player („Baby come back“), Sophie Hunger („Coucou“ / „This is still Pain left“), Bowie & Queen („Under Pressure“)
Foto: Degeto / Conny Klein
Das hat mehrere Ursachen. Hauptfigur wie Narration besitzen einen höheren Abstraktionsgrat als es in herkömmlichen ARD-Freitagsfilme üblich ist. So sehr auch die vermeintlich kleinen Dinge des Lebens die Geschichte in Gang setzen, so gewinnen hier nicht die Banalitäten des Alltags die Oberhand. Die Probleme mit dem ungewollten Alleinsein, die Einsamkeit in der Großstadt, die Verlorenheit, wenn einem die eigene Lebenssituation über den Kopf wächst: Das sind die Themen, die der Film leise, sensibel und klug anschneidet. Dabei verzettelt sich die Handlung nicht in Nebenplots. So schwebt der Sorgerechtsstreit, den Kim ausfechten muss, zwar wie ein Damoklesschwert über der Mutter-Tochter-Beziehung, wird aber nicht ausgespielt. Und der Grundkonflikt ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: Saphir würde gern Susanne als Ersatzoma „adoptieren“; die könnte sich auch durchaus mit der Rolle anfreunden, wäre da nicht die junge Mutter, die Susanne keine Chance gibt, sich als liebenswerter Mensch zu zeigen. Doch dann ergeben sich immer wieder Notsituationen, in denen die Hauptfigur helfend einspringen muss, aber nur wenig oder gar keinen Dank zurückbekommt. Auch der B-Plot, den man mit „Raus ins Leben“ umschreiben kann, aktiviert von der einzigen Freundin, beschert der Hauptfigur auch erst mal keine Erfolgserlebnisse, sondern nur einen höllischen Kater. Lange hat man keine(n) so köstlich Betrunkene(n) mehr im Fernsehen gesehen. Neben der Tiefe der Charaktere und der sympathischen Alltagstonlage, die dem Film immer auch ein Stück Berliner Hinterhofflair mitgeben, muss man ganz besonders die Besetzung hervorheben – allen voran die einzigartige Steffi Kühnert. „Mit ihren wachen Augen und reduziertem Spiel sagt sie mehr, als es Worte ausdrücken können“, schwärmt Regisseur Rasper. Aber auch Zoe Valks in ihrer ersten großen Rolle, in deren Physiognomie und Körpersprachesich Taffheit und Zerbrechlichkeit die Waage halten, ist eine zur Rolle passende, nicht zu gefällige Besetzung. Theodora Tetzlaff ist ein weiterer Glücksgriff, und über Katharina Marie Schubert, Johanna Gastdorf und Max Hegewald in tragenden Nebenrollen muss man nicht viel Worte verlieren.
Foto: Degeto / Conny Klein
Vieles in „Meine Nachbarn mit dem dicken Hund“ wirkt wie aus dem Leben gegriffen. Da ist der Alltag mit Kindern, den ältere, ordnungsliebende Erwachsene nur schwer nachvollziehen können. Da ist das Problem Alleinerziehender, das besonders groß ist, wenn – wie im Film – Ferien sind. Und dann ist da Frau Hirschberger, dieser bullige Vierbeiner, einer von über 100.000 Hunden in Berlin, die eine gute Verdauung haben. Auch der Hund von Saphir und Kim macht diese – alltagsnahen – Probleme, für den am Ende eine für Wohlfühlfilme ungewöhnliche, aber sehr vernünftige und tierfreundliche Lösung gefunden wird. Es gibt aber auch bewährte Komödiensituationen: Da ist das Dilemma mit den kleinen Unwahrheiten, denen – um das Gesicht zu wahren – weitere folgen müssen, bis das ganze Lügengebäude zusammenzukrachen droht. Das ist aber nicht nur lustig, sondern steckt voller Tragik: Die Kollegen wollen nett sein, versetzen Susanne allerdings Stiche in die Herzgegend, als sie witzeln, ihr Peter, den sie noch für ihren Gatten halten, sehe plötzlich zehn Jahre jünger aus.
Ein sehr willkommenes Alleinstellungsmerkmal dieses Freitagsfilms ist die große Beredtheit der Bilder. Das betrifft zum einen die Inszenierung: die bewegliche Kamera, das liebevolle Szenenbild und die zahlreichen Eyecatcher. Gleich die erste Einstellung, ein Schwimmbecken aus der Unterwasserperspektive, besitzt einen enormen Schauwert, bietet aber gleichzeitig einen Link zur Geschichte. Unten im Becken sitzt die Heldin, die nach dem Ende ihrer Ehe „auf Tauchstation gegangen“ ist, wie sie dem Zuschauer im Kommentar mitteilt. Im Schlussdrittel wird dieses Bild wiederaufgenommen. Dazu heißt es: „Ich habe das Becken genug vollgeheult, ich brauch‘ Sauerstoff.“ Es ist also nicht nur das Bild als visuelles Zeichen, es sind auch die Metaphern, die sich Drehbuchautorin Kathi Liers („Neufeld, mitkommen!“ / „Macht euch keine Sorgen“) ausgedacht hat, die diesem Film seine große Geschlossenheit und Dichte geben. Immer wieder werden Ikonen der Einsamkeit in Szene gesetzt: mal sitzt die Verlassene auf einer Couch, still, regungslos, mal nachts im Treppenhaus, die Tränen kullern, und mal versucht sie mit dem Fernglas des Verflossenen (ein Polizeibeamter!) ein bisschen vom Leben der Anderen aufzuschnappen. Ob Drehbuch, Realismus-Konzept, Besetzung, Bildgestaltung, ob der Einsatz der Musik, ob Sprache, Dialogwechsel, Montage – alles in „Meine Nachbarn mit dem dicken Hund“ genügt höchsten Ansprüchen und ist eine Klasse besser als in vergleichbaren Produktionen. Das originelle, phantasievolle Happy End bringt alle diese Qualitäten noch einmal mit Pepp auf den Punkt. (Text-Stand: 22.9.2019)
Foto: Degeto / Conny Klein