Als ob sie es geahnt hätte! Einige Tage bevor Ebba (Iris Berben) mit ihrem Mann Markus (Rainer Bock) an die Ostsee fährt, um ein befreundetes Ehepaar (Martin Brambach, Leslie Malton) zu besuchen, hat sie einen Alptraum: Die Frau in den Sechzigern wird noch einmal Mutter. „Ist das aber ein kräftiger Bursche – und so behaart“, strahlt die Hebamme. Ebba hat ein Bärenjunges zur Welt gebracht. Ein paar Tage später ist es dann ein Bärenkostüm, welches ihr Leben – zumindest vorübergehend – verändern soll. Am Morgen nach einem wenig erfreulichen Abend bei den versnobten Freunden, zieht sie ein Wanderzirkus am Meer in den Bann. Zirkusdirektor Arne (Peter Mygind) hat sofort ein Auge auf die attraktive Frau geworfen, die neugierig einen Blick in die Miniaturmanege wirft, in der ein Mensch im Bärenkostüm zu den Trompetenklängen des charmanten dänischen Lebenskünstlers scheinbar selbstvergessen vor sich hin tänzelt. Der Mann im Bärenfell hat andere Verpflichtungen. Arne versucht, Ebba anzuwerben. Doch die braucht noch Zeit, um zu erkennen, dass ein kleines Abenteuer wertvoller sein kann als eine Fachtagung. Bald steht sie wieder vor Arne mit den Worten: „Ich bin gekommen, um ein Bär zu sein … klingt verrückt, aber so ist es.“
„Verlasse ich mein altes Leben oder verändere ich etwas darin? Nach ihrer Erfahrung im Zirkus entscheidet sich Ebba für ihre Beziehung, aber nicht für ihr altes Leben, sie wird eine andere sein … Durch den anderen Mann fühlt sie sich zwar als Frau wahrgenommen, aber ihre Sehnsucht ist eine andere: Wer bin ich? Was will ich noch im Leben? Was ist es, das ich brauche?“ (Iris Berben)
Nach Dominik Grafs Grimme-Preis-gekröntem TV-Drama „Hanne“ (2018) hat Autorin Beate Langmaack („Blaubeerblau“ / „Weiter als der Ozean“) zum zweiten Mal ein brillantes Drehbuch passgenau auf Iris Berben zugeschrieben, die in diesen Tagen ihren Siebzigsten feiert. Die Lebensmittelbiologin Ebba, die mit ihrem Mann in einem Alter, in dem andere bereits an einen entspannten Lebensabend denken, noch ein Startup-Unternehmen gegründet hat, ist eine Frau, die weiß, was sie will: offen bleiben für neue Erfahrungen. Anders als in „Hanne“ ist sie nicht eine von der Angst (vor einer möglichen positiven Krebsdiagnose) Ge-triebene, vielmehr lässt sie sich ein bisschen von der Gegenwart treiben, ohne dabei jemals die Entscheidungsgewalt über ihr Leben zu verlieren. Und so ist es nicht der andere Mann, dessen Verführungskünsten sie erliegt, nein, es der Wert der neuen Erfahrung, dieser Auszeit, die sie sich nimmt, um über die kostbare Sinnlichkeit des Augenblicks hinaus zu erkennen, wo sie momentan steht im Leben, was sie erreicht hat und wo sie vielleicht noch hin möchte. Im Bärenfell – eine schöne Metapher – ist sie ganz bei sich, fühlt sich sicher und frei. Aber der Tanz der glücklichen Bärin ist nicht von Dauer. Wo hässliche Menschen ihre Bahnen stören, kann es schneller als gedacht ein Ende haben mit diesem schönen Erlebnis.
„Mit dem Film präsentieren wir die Tugend der Liebe. Mit einer Frau, die als Bärin ihr Leben verschwenderisch umarmt, dafür ihr geordnetes Eheleben für einige Tage verlässt – die gemeinsame Liebe dafür aber niemals verrät. Die Eheleute finden sich als wahre loyale Komplizen wieder.“ (Jens C. Susa)
„Mein Altweibersommer“ unterscheidet sich wohltuend von den Das-kann-doch-noch-nicht-alles-gewesen-sein-Dramoletts und ist auch keines jener ehrenwerten Selbstverwirklichungs-Dramen, in denen langweilige Göttergatten die Quittung für ihre Hüftsteife und ihren emotionale Starrsinn serviert bekommen. Die Hauptfigur hat keinen erkennbaren Grund, ihren Mann zu verlassen. Die beiden sind ein gutes Team. Und das nicht nur im Beruf. Ein Ehemann, der die Portion Weinbergschnecken seiner Frau heimlich mitisst, damit sie den Gastgeber nicht enttäuschen muss, kann kein schlechter sein. Und die Blickwechsel, mit denen Iris Berben und ihr Partner Rainer Bock ihre Figuren zu Beginn des Films ausstatten, sind nicht die Blicke zweier Ehepartner, die es gerade so 32 Jahre miteinander ausgehalten haben. Auch dieser Markus ist wild entschlossen, mit 60 sein Leben noch nicht auf Auto-Pilot zu stellen. Doch wird er es verkraften, dass seine Ebba eine Affäre hatte? Er weiß, dass sie nicht auf dem Symposium ist. Er ahnt, was da im Busch sein könnte. „Ebba komm zurück“ schreibt er in großen Lettern auf einen Container im Hafen. Das ist kein Zufall. Hier am nächtlichen Containerterminal begann in der ersten Szene des Films der Alptraum der Bärengeburt. Und hier bittet nun Markus seine Frau quasi, das Bärenkostüm wieder abzustreifen – und in ihr gemeinsames Leben zurückzukehren. Erst einmal aber befindet sich die Ex-Bärin in Feindesland, wo Frauen Freiwild sind. Abenteuer sind nun einmal mit Risiken verbunden.
„Wie ist das, wenn man überall die Schönste ist?“, will der Zirkusdirektor wissen. „Was, wenn ich das gar nicht sein will“, antwortet Ebba, „sondern jemand, der ist, der war, der sein wird“. Das klingt nicht nach Fernsehfilm. Auch andere der wunderbaren Dialogwechsel in „Mein Altweibersommer“ haben etwas von lebensphilosophischen Sentenzen, sind poetisch statt problemorientiert. Die Heldin vermittelt dem Zuschauer die Lust am bloßen Sein. Das gilt vor allem für die Momente des Glücks. Es ist eine große Kunst, von dieser Lust in einem Film zu erzählen, ohne dass Sinnschwere auf dieser Erkenntnis lastet und ohne dass man eine pragmatische Moral ableitet und jenes Abenteuer gar als gescheitert ansieht. Langmaack setzt auf Metaphern, die einen Eigen-Sinn besitzen. Und auf eine mutige Heldin, die sich ausprobiert und deren Sehnsucht etwas zutiefst Menschliches ist, auch wenn es sich die Meisten im Leben verkneifen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass es neben der realistischen, an der Alltagspsychologie orientierten Fernsehfiktion auch TV-Filme wie diesen gibt.
Die Sprache ist bei Beate Langmaack wohl dosiert und nie bloße Informationsquelle. Die Dialoge, die sie schreibt, sind knapp und intelligent pointiert, häufig charakterisieren sie eine Figur beiläufig oder sie verraten etwas über eine Beziehung; darüber hinaus reizt das Gesagte gelegentlich zum Schmunzeln. In „Mein Altweibersommer“ besitzen die beiden Eheleute Sinn für Humor, für (Selbst-)Ironie, und sie legen bei den „wichtigen“ Dingen des Lebens große Ernsthaftigkeit an den Tag. Fein austariert ist in dieser Degeto-Produktion auch das Verhältnis zwischen Wort und Bild, zwischen Sprache und Filmästhetik. Der junge Regisseur Dustin Loose („Tatort – Der höllische Heinz“) hat mithilfe seiner kreativen Gewerke einen liebevoll ausgestatteten Mikrokosmos erschaffen, der auch für den Zuschauer den Charakter einer „neuen Erfahrung“ besitzt. Gedreht wurde an der polnischen Ostseeküste. Die bisweilen urwüchsig anmutenden Locations, das für die Produktion eigens angefertigte Zirkuszelt, aber vor allem die filmische Balance zwischen dem Mensch in der Landschaft (die Signatur des realistischen Films) und einer Hauptfigur, die zwischenzeitlich ganz bei sich ist (was eher dem Psycho-Drama entspricht) hinterlassen beim Sehen den Eindruck eines kraftvollen poetischen Realismus‘, der von drei markanten Charakterköpfen getragen wird. (Text-Stand: 21.7.2020)