Das eigene Kind stirbt, wird plötzlich durch einen Flugzeugabsturz aus dem Leben gerissen. Ein unerträglicher Verlust, ausgelöst durch einen simplen Kurzschluss irgendwo in den kilometerlangen Kabelleitungen der Maschine. Drehbuchautor und Regisseur Wolfgang Panzer erzählt auch das schreckliche Unglück zu Beginn seines Fernsehfilms „Meeresleuchten“ ganz unspektakulär: Die Piloten beim Essen. Einer nimmt einen sonderbaren Geruch wahr. Die Stewardess kommt ins Cockpit. Ob sie auch etwas rieche? „Nein“, sagt sie. Aber dann beginnt es zu knistern und sie deutet auf die Instrumente, aus denen nun ein dünner Rauchfaden aufsteigt. Man sieht das Flugzeug am dunklen Himmel, hört einen ruhigen Funkspruch des Piloten. Es gibt keine Bilder von den Passagieren oder vom Absturz, keine Gesichter voller Todesangst, keine Schreie, kein nervenzerfetzendes Ausmalen der letzten Sekunden in einem auf die Erde zurasenden Flugzeug. Auch von Anna, der erwachsenen Tochter von Thomas (Ulrich Tukur) und Sonja Wintersperger (Ursina Lardi), sieht man später nur ein Foto. Eine junge, hübsche Frau, die für den Rückflug von Osaka nach Deutschland zwei Alternativen hatte – und die falsche wählte. „Sowas passiert nicht“, sagt Sonja, als die Nachricht im Fernsehen läuft.
Und was, wenn es doch passiert? Wenn es nicht wieder die Anderen sind, die es trifft, sondern man selbst? „Meeresleuchten“ ist eine Art Comeback. Der 1947 geborene Wolfgang Panzer war zuletzt vor zehn Jahren mit dem Schweizer Film „Der große Kater“ mit Bruno Ganz und Ulrich Tukur im Fernsehen präsent. Nun legt der gebürtige Münchner einen klugen, feinfühligen Film über die Trauer und das Weiterleben nach einem schweren Schicksalsschlag vor. So zurückhaltend, wie er die Tragödie zu Beginn inszeniert, erzählt Panzer auch die Wende im Leben des erfolgreichen Unternehmers Wintersperger. „Die Firma ist unser Leben“, hatte er am Telefon noch zu seinem Bruder Florian (Bernd-Michael Lade) gesagt und ihn energisch beschworen, das Übernahme-Angebot amerikanischer Interessenten abzulehnen. Während sich seine Frau Sonja wieder in ihre Arbeit als Architektin und Bauherrin stürzt, steigt Thomas nach dem Tod seiner Tochter einfach aus – was wörtlich zu nehmen ist. Die Angehörigen, die am Strand in der Nähe des Unglücksorts Abschied genommen haben, fahren gemeinsam in einem Bus zurück zum Hotel. Als Thomas die permanente Klagerede einer Frau zu viel wird, bittet er den Busfahrer anzuhalten, steigt aus und spaziert ohne Sonja in den Wald hinein – der Beginn eines neuen Lebens, mit maximalem Understatement erzählt.
Im Wald trifft er auf Max (Hans Peter Korff), einen alten Mann, der sich um seine Enkelin kümmert und ein gut gehütetes Geheimnis aus dem Krieg mit sich herumträgt. Beide kommen ins Gespräch, gelangen zu einem schönen Anwesen, das von Matti (Kostja Ullmann) in Schuss gehalten und einem furchterregenden Rottweiler beschützt wird. Thomas („Ich muss nirgendwo mehr hin“) nimmt die Übernachtungs-Einladung Mattis an und kauft am nächsten Tag kurzerhand den gerade von Möbelpackern leer geräumten Krämerladen des kleinen Küstenorts. Er stellt die forsche Wiebke (Marie Schöneburg) als Hilfskraft ein und wird mit seinem langsam aufblühenden Café selbst zu einem Ankerpunkt für die Menschen in dem Kaff. Thomas, von Tukur angenehm zurückhaltend und ohne Betroffenheits-Pathos gespielt, wird zum Zuhörer und Ratgeber. Zum Beispiel für die schrullige Rena (großartig: Carmen-Maja Antoni), die ihre Tochter durch Krebs verloren hat und täglich verkündet, sie müsse für ihren verstorbenen Mann das Essen vorbereiten. Renas Enkelin Nina (Sibel Kekilli) ist eine berühmte Tänzerin und bewohnt, wenn sie mal vor Ort ist, die von Matti gepflegte Villa. Bei den Dorfbewohnern ist sie nicht beliebt, doch mit Thomas freundet sie sich auf Anhieb an.
So wächst unaufgeregt und lakonisch ein Mikrokosmos mit bedeutenden und weniger bedeutenden Nebengeschichten mitten aus dem Leben heran. Der Großvater und seine Enkelin, Mattis unglückliche Ex-Beziehung, Ninas Heimatlosigkeit, Renas eigenwilliges Aufbäumen gegen die Wirklichkeit. „Meeresleuchten“ sei ein Film über Trauer, „aber es ist kein trauriger Film“, sagt Panzer treffend. Die Figuren tragen tragikomische Züge, und das Café wird nach und nach wieder zu einem einladenden Ort. Etwas dick aufgetragene Sätze wie „Ich bin eine Seifenblase und Sentimentalitäten sind wie eine Stecknadel“ fallen in diesem unaufgeregten Szenario geradezu unangenehm auf, bleiben aber Ausnahmen. Panzer verliert das Thema nie aus dem Blick und bagatellisiert den Schrecken keineswegs. Ein schlichtes „Das Leben muss weitergehen“ ist die Botschaft nicht. Thomas, den nur berufliche Verpflichtungen daran gehindert hatten, mit seiner Tochter nach Japan zu reisen, wird von dem Trauma des Verlusts im Schlaf heimgesucht. Seine Ehe scheint gescheitert, denn Sonja zürnt ihm („Du und dein Trauer-Getue“) und scheut die Nähe zum Unglücksort, die Thomas gerade sucht. Die endlose Weite des Meers, in dem ihre Tochter für immer verschwunden ist, bildet den etwas unheimlichen und doch „schönen“ Kontrast zu der kleinen, überschaubaren Welt des Cafés und des Küstenorts. In dieser Landschaft und in der warmherzigen, tröstlichen Inszenierung werden „kleine“ Figuren ganz groß – auch dank einer herausragenden Besetzung. Ein auf unspektakuläre, beiläufige Weise hoch emotionaler Film.