Ida Schmidt, die Sterneköchin und Küchendirektorin eines Berliner Nobelhotels, ist eine ganz Toughe. Sie wütet in ihrem Reich der Kochtöpfe wie eine Furie – da fliegen auch schon mal die Küchenmesser. Ida hat Erfolg, aber sie hat keine Freunde. Sie ist eine Einzelkämpferin. Das soll sich ändern, als sie die elfjährige Mandy kennenlernt. Das Mädchen kommt mittags öfters in „Die Barke“ Essen, eine Sozialeinrichtung für Kinder aus sozial schwachen Familien, die mit „Resten“ von Idas Küche versorgt wird. Dieses Kind scheint etwas in der erwachsenen Frau zu wecken. Oder erinnert sie sich an ihre eigene Kindheit? Ihre eigenen sozialen Wurzeln? Mit einem Kochkurs will sie den Kids aus der „Barke“ etwas Gutes tun. Sie und Mandy lernen sich besser kennen und werden „Freundinnen“. Am Geburtstag des Mädchens kommt es zum großen Schock für Ida: Mandy lebt in einem verwahrlosten Haushalt, die Mutter kränkelt, der Vater trinkt und das Mädchen muss Ersatzmutter spielen.
Foto: ZDF / Conny Klein
Mehr als 1,5 Millionen Kinder in Deutschland leben in Hartz-IV-Haushalten. Jedes sechste Kind wächst in Armut auf. In Berlin leben 35 Prozent der Kinder in einkommensschwachen Familien. Ein sozialer Missstand, ein Thema, das gelegentlich in Krimis gestreift wird, aber nur selten – wie beispielsweise in Niki Steins „Der große Tom“ – in den Mittelpunkt eines Fernsehfilms rückt. Endlich gibt es einen weiteren Film, dem das sehr eindringlich gelingt. „Mandy will ans Meer“ führt mit einem „Trick“ den Zuschauer an das schwere Thema Kinderarmut heran. „Ich wollte den Zuschauer ‚von hinten durch die Brust ins Auge’ mit der traurigen Kindheit von Mandy konfrontieren“, sagt denn auch Tim Trageser. Dabei war der Regisseur freilich angewiesen auf den Drehbuchautor Christian Pfannenschmidt, der sich diesen Umweg über die erwachsene Hauptfigur, das Leben und die fehlende Liebe einer Sterneköchin, zu den Herzen der Zuschauer ausgedacht hat. Der Fachmann für gehobene Unterhaltung, Erfinder der „Girl Friends“ oder der Familien-Hotel-Reihe „Der Schwarzwaldhof“, sah bei dem ZDF-Fernsehfilm wie bei seinem Afghanistan-Heimkehrer-Drama „Willkommen zu Hause“ eine andere Herausforderung: „Sich über den Weg des Massenmediums eines Themas zu bemächtigen, das an- und ausgesprochen werden muss, das kann nach wie vor eine wichtige Aufgabe eines Fernsehfilms sein.“
Foto: ZDF / Conny Klein
Der Film lässt sich Zeit mit seiner „Botschaft“, die durch die Erzählperspektive bis zur 45. Minute versteckt bleibt. Dann entlädt sie sich für den Zuschauer – selbst wenn er das Thema des Films bereits kennt – ebenso schockhaft wie für die erwachsene Hauptfigur. So ist die Reaktion der von Anna Loos gewohnt stark gespielten Ida Schmidt verständlich: Sie muss etwas unternehmen, sie muss sich einmischen. Ob es pädagogisch richtig ist? Was es mit der Kinderseele macht? Das sind nur zwei der Fragen, die der Film aufwirft. „Selbst geschlagene Kinder lieben ihre Eltern tief“, sagt ganz richtig die Frau vom Jugendamt, die ansonsten ein wenig zu deutlich zum Sprachrohr der Thesen zum Thema des Films auserkoren wurde. Die didaktische Grundüberlegung zum Medium aber geht auf. Die Lösung ist eine Film-Lösung. Das aber ist das gute Recht eines Films. Es bleiben dennoch genügend offene Fragen.
„Mandy will ans Meer“ beginnt mit einer Metapher. Das Mädchen treibt regungslos durchs Wasser, sinkt zum Meeresboden hinab. Und die Bilder sprechen weiterhin ihre eigene Sprache. Kaltes Schöner-Wohnen-Design, Luxuskarosse, sich die Dinge auf Distanz und die Menschen vom Hals halten – als Zuschauer spürt man die Diskrepanz zwischen dem Leben, das die Küchenchefin lebt, und dem, was sie sich ersehnt. Ständig befindet sie sich im Kampf. Objektiv gesehen gibt es keinen Grund für die Härte der Heldin. Man ahnt, dass ihre eigene Biographie Antworten darauf geben könnte. Es werden Andeutungen gemacht: Auch ihre Mutter hat sie vor den Schlägen des Vaters nicht beschützt. Noch immer leidet diese Frau unter ihren Kindheitsverletzungen und sie hat Angst, erneut verletzt zu werden. Und so bleibt sie unglücklich – bis sie auf Mandy trifft, eine Seelenverwandte, mit Hilfe derer es ihr endlich gelingt, ihre eigene Vergangenheit zu verarbeiten. Und so gilt das lebensbejahende Bild am Ende auch für die erwachsene Freundin: Mandy versinkt nicht weiter in Richtung Meeresboden, sondern steigt auf wie ein springender Fisch! (Text-Stand: 28.10.2012)