Sein Moped sei „made in Germany“, sagt Trung (Long Dang-Ngoc) stolz, „sehr gute Qualität aus der DDR“. Und tatsächlich knattern nun der Vater und seine Tochter Anh Nghi (Maria Mai Rohmann), kurz: Ani, bei verschiedenen Gelegenheiten gemeinsam durch Berlin – und kommen sich im Grunde auf dem Zweiersitz des Mopeds so nahe wie lange nicht mehr. Ani hatte nach durchtanzter Nacht ihren eigenen Auszug aus der gemeinsam mit der Mutter bewohnten, wegen Eigenbedarfs gekündigten Wohnung verpennt. Statt mit ihrer Mutter aufs Land zieht sie vorübergehend zu ihrem Vater in eine Plattenbauwohnung. Die beiden könnten kaum unterschiedlicher sein. Trung schuftet im eigenen Restaurant, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Wie er sich auf dem Amt aus Existenzangst selbst erniedrigt, beschämt Ani. Gegen unverschämte Vermieter und aufdringliche Männer weiß sich die junge Frau zu wehren. Manche Szene in der ersten Episode des Sechsteilers wirkt etwas ungelenk, und von mangelnder Hygiene in vietnamesischen Restaurants hätte man auch nicht unbedingt erzählen müssen. Aber wie sich die coole Ani und ihr einsamer Vater zusammenraufen, das hat Herz und weckt Sympathie.
„Made in Germany“ ist auch Ani selbst, geboren in Deutschland wie die fünf weiteren Hauptpersonen der Serie über eine bunt gemischte Berliner Freundesclique. Die einzelnen Filme sind lose miteinander verknüpft, selten sieht man alle sechs zusammen. Vielmehr sind alle durch eine innige Freundschaft mit Einzelnen auf besondere Weise verbunden: Ani zum Beispiel mit Jamila (Paula Julie Pitsch), deren Vater aus Jamaika stammt und in die wiederum Mo (Mohamed Kanj Khamis), dessen kurdische Eltern in den Irak zurückkehren wollen, mehr oder weniger heimlich verliebt ist. Mehr noch als durch die dramaturgische Struktur wird der Sechsteiler allerdings durch den Schauplatz zusammengehalten. Das multikulturelle Berlin ist der siebte Hauptdarsteller in „Made in Germany“, und siehe da: Es gibt eine TV-Fiktion, die von migrantischen Milieus erzählt und ohne „Kotti“, Drogen und Gewalt auskommen kann.
Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Coming-of-Age-Serie ist der Lebensabschnitt, in dem sich die Protagonist:innen befinden. Mit Anfang 20 haben die Ablösung vom Elternhaus und das eigenständige Leben gerade erst begonnen. Den wenigsten ist so richtig klar, wohin die Reise gehen soll, weder in der Liebe noch im Beruf. „Ich weiß nicht, wer ich bin“, sagt Mo, der für seine Bewerbung an der Filmakademie ein Selbstporträt drehen soll und auf die seltsame Idee kommt, Tauben in den Berliner Parks zu filmen. „Dann finde es heraus“, erklärt sein Freund Nikki (Daniil Kremkin). „Und wie? Das kann man ja schlecht googeln oder so“, antwortet Mo in der fünften Episode, die nicht nur durch ihren Dialogwitz heraussticht. Sie gehört auch deshalb zu den besten Filmen, weil hier nicht nur ein Lebensgefühl, sondern auch eine durchdachte Geschichte dramaturgisch überzeugend erzählt wird. Mo steht in vielerlei Hinsicht vor einem Wendepunkt: Die einst vor den Giftgas-Angriffen des Regimes von Saddam Hussein geflüchteten Eltern wollen in ihr Heimatdorf zurückkehren, was sich weder Mo noch seine ebenfalls in Berlin geborene Schwester Seyran (Bayan Layla) vorstellen können. Mo erkennt, dass er sein eigenes Leben leben muss. Er wirft bei der letzten Prüfung sein BWL-Studium hin, bewirbt sich bei der Filmakademie und bemüht sich endlich mal ernsthafter um Jamila.
Eine ähnliche Qualität erreicht auch die sechste Episode, in der sich Nikki, deren jüdische, aber nicht-religiöse Eltern aus der ehemaligen Sowjetunion eingewandert waren, in eine junge New Yorker Jüdin verliebt. Maya (Lisa Ullrich) recherchiert in Berlin für ihre Masterarbeit die Geschichte ihrer im Holocaust getöteten Vorfahren und konfrontiert Nikki, aber auch dessen Mutter und Schwester mit einem anderen Verständnis vom Judentum. Ohnehin ist das Verhältnis der zweiten Generation zu den Eltern in allen Filmen von zentraler Bedeutung: Ähnlich emotional wie in der fünften Episode („Mo“) wird es in Folge vier, die von der jungen Zehra (Beritan Balci) und ihrem schwierigen Outing in einer alevitischen Familie handelt. Dem im Sterben liegenden Vater möchte seine Tochter endlich Freundin Daria (Maria Popov) vorstellen – und stößt damit bei der Mutter und anderen Angehörigen auf Ablehnung. Um Hautfarbe, Rassismus und das Selbstverständnis der „People of Colour“ geht es in den Episoden zwei („Jamila“) und drei („Coumba“). Jamila hat Gefallen an Ben (Gustav Schmidt) gefunden, doch dass der offenbar auf einen bestimmten Typ schwarzer Frauen steht, stört sie gewaltig, denn: „Ich bin keine exotische Frucht.“ Politisch interessanter ist Coumbas (Vanessa Yeboah) Geschichte: Die Influencerin verärgert ihren Bruder und einen Teil der eigenen Community, weil sie sich als Gesicht einer Werbekampagne für einen umstrittenen Konzern zur Verfügung stellt.Aber sie bleibt standfest, weil sie es für wichtig hält, dass schwarze Mädchen in Werbung und Medien nicht nur weiße Vorbilder sehen.
Gelungen ist auch, dass die verschiedenen Milieus in den einzelnen Filmen weniger durch Klischees markiert sind, sondern dass verschiedene Feste und Zeremonien, das Essen oder auch die Musik die vielfältigen Traditionen und Lebensweisen in Berlin vor Augen führen. In Zehras Geschichte ist es die alevitische Verabschiedungszeremonie. Coumba macht sich wie ihre Angehörigen für das islamische Opferfest schick, bei dem es allerdings ebenso zum Streit kommt wie beim Treffen von Anis vietnamesischer Familie in Trungs Restaurant zu Ehren des verstorbenen Großvaters. Und dann sind da noch die Musik und die sprachlichen Codes, in denen das Lebensgefühl junger Berliner:innen zum Ausdruck kommt. Wie authentisch das alles ist, darüber maßt sich der seit mehr als sechs Jahrzehnten im Rheinland lebende Kritiker kein Urteil an. Dass auch mal Frank Sinatra („New York, New York“) zu hören ist, ist jedenfalls nur ein Ausrutscher. (Text-Stand: 25.9.2024)