Früher waren Alliterationen in Roman- und TV-Reihen mal hip (Bella Block, Rosa Roth). Senta Berger verbot sich allerdings schon vor mehr als 20 Jahren für ihre Figur in der ZDF-Reihe „Unter Verdacht“ solche „albernen Rollennamen“ und wurde mit dem würdevolleren Namen Eva-Maria Prohacek belohnt. Nun also betritt „Leander Lost“ die Fernsehbühne – ein Name, der ein bisschen märchenhaft klingt, wie Bastian Balthasar Bux in Michael Endes „Die unendliche Geschichte“. Aber ein Wortspiel enthält der Name auch: Kommissar Lost (Jan Krauter) aus Hamburg, der im Rahmen eines Europol-Austauschprogramms seinen Dienst in Portugal antritt, ist tatsächlich eine Art „Verlorener“, jedenfalls in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Als Asperger-Autist kann er den Gesichtsausdruck seines Gegenübers nur mühsam entschlüsseln. Er versteht keine Ironie, nimmt alles wörtlich und ist unfähig zu lügen. Das lässt ihn gleich am ersten Tag wegen eines Geheimnisverrats zum unbeliebten Außenseiter in seinem neuen Team werden. Andererseits verfügt Lost über ein fotografisches Gedächtnis und eine blitzschnelle Kombinationsgabe, was ihn zu einem unverzichtbaren Bestandteil bei den Ermittlungen nach einem Mord an einem Privatdetektiv macht.
Kommissarin Graciana Rosada (Eva Meckbach), die gerne waghalsig Auto fährt, und ihr betont lässiger Kollege Carlos Esteves (Daniel Christensen) sind erst mal schwer irritiert von dem seltsamen Deutschen. Eine Sprachbarriere gibt es allerdings nicht, denn Lost beherrscht angeblich akzentfrei die Sprache seines Gastlandes. Portugiesisch ist aber nur in typischen Alltags-Bruchstücken zu hören, denn natürlich sprechen die deutschsprachigen Hauptdarsteller Deutsch, während die immerhin vorhandenen portugiesischen Nebendarsteller synchronisiert wurden. Das klingt manchmal gewollt und falsch, hat sich aber dank der zahlreichen populären Krimireihen, die im Ausland spielen, durchgesetzt.
Auch autistische Protagonisten sind in Filmen und Serien längst keine Ausnahme-Erscheinungen mehr. Man denke nur an den brillanten Soziopathen „Sherlock“ oder an die schwedische Kommissarin Saga Norén in der Serie „Die Brücke“. Dass man in fiktionalen Stoffen einen Charakter mit Entwicklungsstörung behutsam und nicht eindimensional zeichnen sollte, versteht sich von selbst. In „Lost in Fuseta“ geht die Balance ganz gut auf. Das Asperger-Syndrom wird einerseits nicht verharmlost – Leander Losts Welt gerät buchstäblich aus den Fugen, wenn die sieben „Wächter“, sieben von ihm sorgfältig im Zimmer verteilte Steinfiguren, nicht mehr an ihrem Platz sind. Andererseits fehlen auch eine gewisse Leichtigkeit und eine Prise schwarzen Humors nicht. Leander Lost hält selbst in lebensbedrohlichen Situationen eisern an logischen Schlussfolgerungen fest. Weshalb er seinem Kollegen Carlos Esteves (Daniel Christensen), der sich in der Gewalt eines Kriminellen befindet und mit einem Messer am Hals ums eigene Leben fürchtet, eine Kugel ins Bein jagen muss, um freies Schussfeld zu bekommen.
Hauptdarsteller Jan Krauter gibt eine sehenswerte Vorstellung als tragikomischer Außenseiter und verletzlicher Held, der meist mit Anzug und Krawatte durch die portugiesische Hitze läuft, seiner Umgebung mit deutscher Besserwisserei auf die Nerven geht und sich zu einem Undercover-Einsatz überreden lässt, weil er mal wieder den Subtext nicht versteht. Für einen dezent romantischen Nebenstrang sorgt die bildhübsche Soraia Rosada (Filipa Areosa), die Schwester der Kommissarin. Lost mag ihre Grübchen, ist aber blind für die sich in Soraias Gesicht ziemlich deutlich abzeichnenden Emotionen. Der Versuchung einer kitschigen Liebesgeschichte widerstehen Drehbuch-Autor Holger Karsten Schmidt und Regisseur Florian Baxmeyer dankenswerter Weise – jedenfalls vorerst.
Denn Schmidt hat unter dem Pseudonym Gil Ribeiro mit „Lost in Fuseta“ 2017 nicht nur seinen dritten Roman geschrieben. Mittlerweile sind vier weitere Bücher in der Leander-Lost-Reihe erschienen, während Schmidt nun selbst das Drehbuch für die Verfilmung des Auftaktromans verfasst hat. Da geht wohl noch mehr, wenn die Quoten stimmen. Einer Verfilmung habe er nur unter der Voraussetzung zugestimmt, „dass dafür 180 Minuten zur Verfügung gestellt werden“, wird Schmidt in dem von der ARD-Programmdirektion herausgegebenen Pressematerial zitiert. Und die ARD hat gut daran getan, auf ihren renommierten Autoren („Gladbeck“, „Mord in Eberswalde“) zu hören, denn so bleibt ausreichend Zeit, die Hauptfiguren einzuführen und gleichzeitig den Schauplatz im Süden Portugals intensiv mit einzubinden. Wie sich Landschaften, Typen und Krimistoffe verbinden lassen, darin ist Holger Karsten Schmidt erprobt, man denke nur an die Harz-Reihe „Harter Brocken“ oder die an der Ostseeküste spielenden „Nord bei Nordwest“-Filme.
Kameramann Michael Grabowski („Lomo“, „Leander Haußmanns Stasikomödie“) darf sich in der Algarve vergleichsweise austoben und das Publikum beeindrucken. Schwindelerregende Kameraflüge, Action an der Staumauer, auch mal ein Spezialeffekt wie in einem Horrorfilm, dazu vielseitige Perspektiven von Land und Leuten, staubige Straßen, armselige Hütten, aber auch luxuriöse Anwesen mit Garten und Pool, appetitlich gedeckte Essens-Tische, die Algarve in allen möglichen Licht-Stimmungen – man sieht es bereits an den Bildern: „Lost in Fuseta“ will mehr sein als TV-Durchschnitt, will pralle, üppig inszenierte Unterhaltung sein.
Und das gelingt unter der Regie von Florian Baxmeyer auch, inklusive einer mitunter beherzten Überzeichnung der Figuren. Autor Schmidt erzählt die klassische Geschichte vom Kampf Gut gegen Böse und greift dabei ohne didaktischen Beiklang ein aktuelles Thema auf: die Privatisierung von Trinkwasser. Gegenpole sind das familiäre, bodenständige und gastfreundliche Portugal in Gestalt der Rosadas, an deren Tisch man sich gerne dazusetzen möchte, sowie die skrupellosen Profitjäger eines internationalen Konzerns, der hinter einer schweren Stahltür vermeintlich legale Geschäfte mit dem Allgemeingut Trinkwasser betreibt. Der Manager ist ein unscheinbar wirkender Schweizer namens Benedict (Philippe Graber), dessen Tochter Eva (Laura Dutra) – Nomen est Omen – umso auffälliger gerne mal als Sinnbild verführerischer Weiblichkeit durchs Bild läuft. Der Mann fürs Grobe, Abel Peres (José Fidalgo), ist auch eine Mischung aus religiösem Zitat und Karikatur. Zum einen ist Abel in der Bibel der zweite Sohn von Adam und Eva, zum anderen entspricht der Abel hier äußerlich der ikonischen Jesus-Darstellung und weiß hübsch diabolisch zu lächeln – der Teufel in der Gestalt des südeuropäischen Machismo. Dass der Name seines Auftraggebers an den letzten Papst aus Deutschland erinnert, wird dann wohl auch kein Zufall sein.
Die Geschichte hält aber auch deshalb über 180 Minuten die Spannung, weil der zweite Teil praktisch ein neuer Film ist. Eine bei einem Autounfall getötete Umweltaktivistin, die Kontakt zu dem ermordeten Privatdetektiv hatte, hinterlässt eine punkige Tochter. Zara (Bianca Nawrath) könnte eine wichtige Zeugin sein, macht aber vorerst dicht. In der Hoffnung, dass der zu keiner Lüge fähige Lost das Vertrauen des kratzbürstigen Teenagers gewinnt, wird sie erst mal übers Wochenende aus dem Waisenheim geholt und bei ihm einquartiert. Dem Gast aus Deutschland hatte man eine reizende Finca mit schönem Garten und herrlich blau leuchtendem Pool zur Verfügung gestellt, die man am liebsten gleich für den nächsten Portugal-Urlaub buchen möchte und wo es im Film zu dem vorhersehbaren Showdown kommt. „Lost in Fuseta“ ist kein raffiniert ausgetüftelter Krimistoff, aber für Unterhaltung ist reichlich gesorgt. Und für Namensspiele und Genre-Zitate aller Art auch. Das Stelldichein der Außenseiter ergibt natürlich die Kombination Zara/Leander. (Text-Stand: 4.8.2022)