In der Zeit zurückreisen und Hitler töten, bevor er die Macht ergreifen konnte: Das Gedankenexperiment ist ebenso verlockend wie unrealistisch, denn die Vergangenheit kann nicht mehr verändert werden. Die Zukunft hingegen schon; doch das gilt selbstredend auch für die dunkle Seite. Dies ist der faszinierende Hintergrund des zweiten „Portugal-Krimis“, aber der nach Fuseta versetzte Hamburger Europol-Kommissar Leander Lost (Jan Krauter) kann zunächst natürlich nicht ahnen, worum es wirklich geht, als eine einheimische Kollegin verschwindet. Teresas letztes Lebenszeichen sind die Bilder der Überwachungskamera einer Tiefgarage, in der sie anscheinend vom toten Winkel verschluckt worden ist. Allerdings führt der Prolog in die Irre: Die beiden Männer, die der Film als Täter anbietet, haben nicht etwa die Polizistin, sondern eine Mutter und deren Tochter entführt. Parallel zu den beiden Verbrechen wird die Policia Judicária um Personenschutz für eine Journalistin aus Angola gebeten.
Die ARD-Reihe „Lost in Fuseta“ basiert auf Romanen von Gil Ribeiro. Es ist kein Geheimnis, dass sich hinter dem Pseudonym Holger Karsten Schmidt verbirgt; der mehrfache Grimme-Preisträger ist unter anderem Schöpfer der gleichfalls von der ARD-Tochter Degeto in Auftrag gegebenen Krimireihen „Nord bei Nordwest“ und „Harter Brocken“. Deren besonderes Merkmal ist neben den jeweiligen Hauptfiguren die regelmäßig gelungene Mischung aus provinzieller Beschaulichkeit und Kapitalverbrechen; gern auch in Gestalt organisierter Kriminalität. Auf „Spur der Schatten“, den zweiten Film nach dem sehenswerten Auftakt (2022), trifft beides ebenfalls zu, zumal Lost nach wie vor eine faszinierende Persönlichkeit ist: Der Kommissar hat das Asperger-Syndrom, nimmt alles wörtlich und ist für Ironie oder subtilen Humor gänzlich unempfänglich. Außerdem verfügt er über eine Inselbegabung: Er hat ein fotografisches Gedächtnis, was für einen Polizisten natürlich außerordentlich nützlich ist, selbst wenn er die Geduld der anderen Team-Mitglieder mit seinem enzyklopädischen Wissen mitunter etwas strapaziert. All’ das aber ist gewissermaßen Bonusmaterial, denn im Vordergrund stehen drei Fragen: Wo ist die Verbindung zwischen den Mord an Teresa und der Entführung? Welche Rolle spielt die Journalistin? Und was hat es mit dem Mann auf sich, der zu Beginn am Flughafen eintrifft und offenkundig ein Killer ist?
Der Handlungskern birgt also eine Menge Thriller-Potenzial, aber von dieser Genre-Einstufung ist der Film weit entfernt; spannend wird es erst im zweiten Teil. Felix Herzogenrath hat mehrere „Nord bei Nordwest“-Episoden gedreht; einige waren richtig gut, andere wirkten eher beliebig. Das gilt trotz der guten Bildgestaltung (Dominik Berg) mit ihren kräftigen Farben, den fließenden Kamerabewegungen und den traumhaft schönen Strandbildern auch für „Spur der Schatten“, was nicht zuletzt an der Geschichte liegt: Zwei Teile sind mindestens ein halber zu viel, diverse Szenen hätten sich problemlos streichen lassen. Keine Sekunde zu lang ist dagegen die Ebene mit Filipa Areosa: Schon im ersten Film fühlte sich Soraia, die jüngere Schwester von Losts Kollegin Graciana (Eva Meckbach), stark zu dem seltsamen Deutschen hingezogen, was der emotional beeinträchtigte Leander jedoch nicht mitbekommt. Er geht stattdessen eine sehr sachliche Liaison mit Teresas Tochter ein, denn Eva (Lia Carvalho) ist vom gleichen Schlag; Schmidt nutzt die antiromantischen Gespräche der beiden („Sterne lachen nicht“), um das Asperger-Syndrom zu erklären.
Schauspielerisch ist „Spur der Schatten“ ohnehin sehenswert, selbst wenn die akustische Ebene wie nahezu alle Auslandskrimis der Degeto durch ihre Mischung aus natürlich gesprochenen Dialogen und dem stets etwas künstlich klingenden Synchrondeutsch irritiert, zumal die Gesten der Einheimischen nicht immer zu den eingesprochenen Sätzen passen. Gelegentliche portugiesische Brocken (obrigado, bom dia) verstärken diesen Fremdel-Effekt eher noch. Ein uneingeschränktes Vergnügen ist hingegen Jan Krauter, dessen Spiel an „Starman“ (1984) erinnert. In John Carpenters Klassiker verkörpert Jeff Bridges einen Außerirdischen, der die Gestalt eines Verstorbenen annimmt und sich schwertut, die seltsamen Sitten und Gebräuche der Menschen zu verstehen. Sinnbildlich für die Verwandtschaft dieser beiden Filmfiguren ist Losts Lektüre eines „Kompendiums der sinnlosen Sätze“, die er dann in seine Konversation einfließen lässt. Die jeweils zur Auswahl stehenden Floskeln („Da sagen Sie was!“) sind eingeblendet, ebenso wie später aus der Vogelperspektive zwei bunte Dreiecke, als sich das Team in zwei Gruppen aufteilt, um den Killer zu beschatten. Einfälle wie diese sind die Würze des Zweiteilers, der komprimiert auf 120 Minuten bestimmt ein dicht erzählter, fesselnder Krimi geworden wäre, zumal die Geschichte, wie sich später zeigt, bis zurück in die Kolonialzeit Portugals reicht. Diverse Impressionen wirken dagegen wie Lückenfüller und bringen die Handlung keinen Deut weiter, „aber wenn wir schon mal an der Algarve sind, wäre es doch Verschwendung, sie nicht mitzunehmen.“ Einige Szenen sind allerdings überaus raffiniert ausgedacht und gut umgesetzt. Das Finale ist ziemlich packend, zumal der Killer, als sein schmähliches Treiben zweifach vereitelt wird, Plan C aus dem Ärmel schüttelt; und die Musik (Sven Rossenbach, Florian van Volxem) ist nicht nur wegen des eingängigen morriconesken Leitmotivs herausragend. (Text-Stand: 14.3.2024)