„Zum Schweigen verurteilt“. Einer trage des Anderen Last
Es hat in den letzten Jahren diverse Filme über Missbrauch durch katholische Priester gegeben, aber Thomas Freundner beleuchtet das Thema in seinem ersten Drehbuch für die Reihe „Lissabon-Krimi“ von einer anderen Seite (Idee: Horst Freund): Die Geschichte kombiniert die Anschuldigung gegen Padre Lima (Timur Işik) mit einem zweiten Aspekt, der gleichfalls schon häufiger Handlungskern von Krimis und Dramen über Priester war. Der Padre engagiert sich hingebungsvoll für Straßenkinder. Als einer seiner Schutzbefohlenen stirbt und die Obduktion Spuren von sexuellem Missbrauch ergeben, steht Lima unter Mordverdacht, zumal er in seiner Kirche mit der Leiche des Jungen auf den Armen angetroffen worden ist. Anwalt Eduardo Silva (Jürgen Tarrach) übernimmt auf Bitten seines alten Freunds Valdemar (Luís Lucas), des Onkels von Assistentin Marcia (Vidina Popov), die Verteidigung, landet aber umgehend in einer Sackgasse: Der Priester beteuert nicht nur seine Unschuld, er weiß sogar, wer den kleinen Pelé auf dem Gewissen hat; aber er ist ans Beichtgeheimnis gebunden. Da die Indizien jedoch gegen ihn sprechen, gibt es für Silva nur einen Weg, den Padre vor dem Gefängnis zu bewahren: Er muss den wahren Mörder finden.
Foto: Degeto / Armando Claro
Die Qualität der bisherigen „Lissabon-Krimis“ war wechselhaft; auf interessante Episoden folgten Inszenierungen, die eher einfallslos wirkten. „Zum Schweigen verurteilt“ gehört zu den besseren Filmen der Reihe, selbst wenn die Umsetzung vergleichsweise beschaulich ist; Regie führte Tim Trageser, der sowohl sehenswerte Komödien („Tollpension“, 2006) und Dramen („Einer bleibt sitzen“, 2008) als auch gute Krimis etwa für den „Tatort“ aus Münster oder „Kommissarin Lucas“ gedreht hat. Der Reiz seines ersten Lissabon-Krimis liegt neben dem zauberhaften Licht (Kamera: Eckhard Jansen), das zu einer Art Markenzeichen der Reihe geworden ist, sowie der schönen melancholischen Musik (Andreas Weidinger) in der Detektivarbeit des Anwalts. Lima mag unschuldig sein, aber den Täter vermutet Silva trotzdem im Klerus. Alsbald treffen Marcia und er auf einen Prälaten, mit dem der Padre am Tag des Mordes in der Kirche verabredet war. Filipe Sousa (Marques D’Arede) beteuert zwar, er sei gar nicht dort gewesen, aber ein Zeuge hat ihn gesehen. Der Mann hat in der Tat Dreck am Stecken: Silvas Pensionswirtin (Katharina Pichler) ist als Kind von ihm mindestens sexuell belästigt worden; mehr will sie nicht erzählen. Der Fall scheint geklärt, doch ausgerechnet Lima legt für den Prälaten seine Hand ins Feuer. Die Zusammenhänge entpuppen sich als derart kompliziert, dass selbst ein Geständnis am Ende nur die halbe Wahrheit ist.
Geschickt baut Grimme-Preisträger Freundner („Tatort: Herzversagen“, 2005), der die Inszenierung seiner Drehbücher sonst in der Regel selbst übernimmt, Anknüpfungspunkte für Stammzuschauer der Reihe ein: Witwer Silva wird mit einem Besuch am Grab seiner Frau eingeführt; anschließend lässt er seiner Trauer im Stammlokal freien Lauf. Auf dem Heimweg wird er von Straßenkindern beklaut; es handelt sich natürlich um die Rasselbande des Padres, die allesamt Spitznamen berühmter Fußballer tragen und von den Bewohnern des Viertels als Plage betrachtet werden. Zwei dieser Kinder werden im Verlauf der Handlung noch eine besondere Rolle spielen: Eine belastende Aussage von „Figo“ droht das Schicksal Limas zu besiegeln, aber zum Glück gelingt es Silva, das Vertrauen von „Marta“ (benannt nach dem brasilianischen Topstar) zu gewinnen … Die Schauspieler sind ausnahmslos gut geführt, auch die ganz jungen. Kinder stolpern meist über ihre Dialoge, aber die Synchronisierung, nicht selten eine Schwachstelle der von der ARD-Tochter Degeto verantworteten Auslandskrimis, klingt ordentlich. Timur Işik ist eine gute Besetzung für die Episodenhauptrolle, zumal er die Prinzipientreue des Padres sowie die christliche Maxime „Einer trage des anderen Last“ sehr glaubhaft verkörpert. Reichlich eindimensional fällt dagegen der eigentliche Schurke der Geschichte aus, ein vierschrötiger Streifenpolizist (Dinarte Branco) voller Vorurteile, dem jedes Mittel recht zu sein scheint, um die Kinderplage zu beseitigen.
Foto: Degeto / Armando Claro
„Die verlorene Tochter“. Die Welt am Abgrund
Die Aufnahmen sind ein bisschen unscharf und offenbar schon älter: Ein Mann und ein kleines Mädchen spielen am Strand. Plötzlich läuft das Mädchen ins Wasser, dreht sich zum Vater um und winkt ihm zu; weil es das Meer nun im Rücken hat, sieht es nicht, wie hinter ihm eine Welle immer größer wird. Diese Bilder ziehen sich wie ein roter Faden durch den zweiten neuen Film, „Die verlorene Tochter“. Das Drehbuch ist diesmal von Sönke Lars Neuwöhner und Sven S. Poser, die für die Reihe bereits die Episoden zwei und vier („Alte Rechnungen“, „Feuerteufel“) geschrieben haben. Der Vater ist Eduardo Silva, das Mädchen ist seine Tochter. Mit der Einführung dieser neuen Figur sorgt das Autorenduo für ein außerordentlich belebendes Element, zumal die mittlerweile längst erwachsene Ines (Helen Woigk) in gewaltigen Schwierigkeiten steckt. Seit dem Tod ihrer Mutter hat sie keinen Kontakt mehr zum Vater, aber nun braucht sie seine Hilfe: Miguel (Martin Bruchmann), ihr Freund, ist Gründer der Umweltbewegung Ambiente Primeiro, die in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich ist. Weil die Welt am Abgrund steht und es nicht reicht, den Müll zu trennen, wie Ines ihren Vater belehrt, ist die Gruppe bereit, ihre Ziele mit Gewalt zu verfolgen. Trotzdem ist Silva zunächst schleierhaft, was Miguel mit der Ermordung eines Drogenschmugglers zu tun haben soll, zumal es viel naheliegender ist, dass die Mafia einen unliebsamen Konkurrenten ausgeschaltet hat. Für Ines und Miguel ist der Fall hingegen klar: Der Geheimdienst will ihnen den Mord in die Schuhe schieben, um Ambiente Primeiro zerschlagen zu können; und je tiefer Silva in den Fall verwickelt wird, umso mehr wächst seine Überzeugung, dass sie recht haben.
Das Kreativduo hinter der Kamera ist das gleiche wie bei „Zum Schweigen verurteilt“, weshalb Licht- und Bildgestaltung erneut von großer Sorgfalt sind. Außerdem haben Tim Trageser und sein Team interessante Schauplätze fernab des touristischen Lissabons gefunden. Die Musik ist diesmal noch stimmungsvoller als im ersten der beiden neuen Filme, zumal Andreas Weidinger einige Fado-Sequenzen in seine Komposition integriert hat. Mit dem typisch portugiesischen Gesang beginnt der Film auch, als Silva in seinem Stammlokal ein entsprechendes Lied anstimmt; Tarrach hat es selbst komponiert. Der Schauspieler hat letztes Jahr ein Album mit deutschen Fado-Liedern aufgenommen, eins davon gemeinsam mit Vidina Popov, deren Rolle sich spürbar verändert hat: Marcia hat juristisch an Selbstvertrauen gewonnen und ist längst mehr als eine Assistentin, zumal sie ihren körperlich geschwächten Chef mehrfach vertreten muss. Uneins sind sich die beiden allerdings bei ihrer Haltung zu den jungen Umweltschützern: Marcia hält die Gruppe für verwöhnte Wohlstandskinder und ihre Aktionen für Show. Die Bombe, mit der Miguel eine Fracking-Versuchsanlage in die Luft jagen will, ist allerdings sehr real. In emotionaler Hinsicht lebt der Film vor allem vom Zwist zwischen Silva und Ines: Der Vater ist schockiert über die Radikalisierung seiner Tochter und fragt sich, wo das fröhliche Mädchen von früher geblieben ist. Unterm Strich ist die sechste Episode deutlich spannender als „Zum Schweigen verurteilt“, zumal Silva am Ende selbst in größte Gefahr gerät, als er herausfindet, wer wirklich hinter dem Mord steckt.