Liebes Kind

Kim Riedle, Naila Schuberth, Jones, Löw, Kleefeld, Pörksen. Ich bin immer bei dir

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Foto Tilmann P. Gangloff

Die Netflix-Serie „Liebes Kind“ (Constantin Television) ist ein raffiniert konzipierter Psychothriller, dessen Puzzleteile erst ganz am Schluss ein perfides Gesamtbild ergeben: Nach offenbar jahrelanger Gefangenschaft gelingt Mutter und Tochter die Flucht aus ihrem Gefängnis. Die Erleichterung der Eltern ist zunächst grenzenlos, gefolgt von der erschütternden Erkenntnis: Die Frau ist nicht ihre vor 13 Jahren verschwundene Tochter Lena; aber die zwölfjährige Hannah ist zweifellos ihre Enkelin, zumal das Mädchen Lenas Vater auf Anhieb als Opa identifiziert. Die handwerkliche Umsetzung ist höchstes Niveau, das Drehbuch hat die gleichnamige Roman-Vorlage von Romy Hausmann clever ergänzt, aber besonders sehenswert sind die sechs Folgen nicht zuletzt wegen der vorzüglichen darstellerischen Leistungen; Kim Riedle brilliert als geschundene, gedemütigte und missbrauchte Frau, vor allem aber die junge Naila Schuberth ist geradezu gruselig gut.

„‚Liebes Kind’ beginnt da, wo andere Thriller enden“: Normalerweise ist Vorsicht geboten, wenn die Werbung für einen Film oder eine Serie davon schwärmt, wie außergewöhnlich eine Geschichte oder ihre Umsetzung sei. In diesem Fall ist die Ankündigung jedoch korrekt, denn der spektakuläre Teil der Handlung scheint spätestens nach der dritten von sechs Folgen vorbei zu sein: Eine Frau war anscheinend viele Jahre in einem fensterlosen Gebäude gefangen. Endlich gelingt ihr mitsamt der zwölfjährigen Tochter die Flucht. Wenig später kann auch der jüngere Sohn befreit werden. Die Frau hat zwar noch die Stimme ihres Peinigers im Kopf, aber da sie ihn erschlagen hat, wird der Spuk bald ein Ende haben. Oder doch nicht?

Liebes KindFoto: Netflix
Wer ist diese Frau (Kim Riedle)? Die verschwundene Lena ist es auf jeden Fall nicht.

„Liebes Kind“ ist ein Psychothriller in sechs Teilen. Die Meriten für die Idee gebühren Romy Hausmann, auf deren gleichnamigem Roman (dtv) die Serie basiert, doch was Headautorin und Regisseurin Isabel Kleefeld sowie Koautor und -regisseur Julian Pörksen aus dem Handlungskern gemacht haben, verdient fast noch mehr Respekt. Wie in der thematisch eng verwandten Romanverfilmung „Raum“ (mit Brie Larson, 2015) passiert im Grunde zunächst nicht viel, aber das mit höchster Intensität. Es gibt zwar auch Szenen, die von vordergründiger Spannung leben, doch die eigentliche Geschichte spielt sich im Kopf jener Frau (Kim Riedle) ab, die angeblich Lena heißt und vor dreizehn Jahren verschwunden ist. Ein LKA-Beamter (Hans Löw), der sich Lenas Schicksal viel zu sehr zu Herzen genommen hat, um unbefangen ermitteln zu können, hat im Verlauf der ergebnislosen Suche offenbar Teile seiner geistigen Gesundheit eingebüßt; vom unsagbaren Schmerz der Eltern (Justus von Dohnány, Julika Jenkins) ganz zu schweigen. Ihre Hoffnung haben sie dennoch nie aufgegeben. Umso größer ist nun der Schock, als sich herausstellt: Die Frau ist nicht Lena. Aber wie ist zu erklären, dass ihre Tochter haargenau so aussieht wie Lena mit zwölf?

Krimis sind häufig ein besonderes Vergnügen, wenn jede Antwort neue Fragen aufwirft und zusätzliche Informationen zur Folge haben, sodass die Geschichte immer undurchschaubarer wird. Nur die Fakten sind klar: Das Haus, in dem die beiden Kinder ihr ganzes Leben verbracht haben, befindet sich irgendwo in der Nähe von Aachen in einem militärischen Sperrgebiet. Nach ihrer nächtlichen Flucht ist die vermeintliche Mutter angefahren worden und schwerverletzt ins Krankenhaus gekommen. Während sie im Koma liegt, fasst ihre Tochter Vertrauen zu einer Krankenschwester (Birge Schade). Hannah ist ein ungewöhnlich kluges Mädchen mit einem geradezu enzyklopädischen Wissen. Sie berichtet von heimlichen Ausflügen, die sie mit ihrer Mutter unternommen hat, ans Meer, aber auch zum Großvater, den sie zur allgemeinen Verwirrung sofort erkennt; dabei hat sie das Haus nie verlassen.

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Vor dreizehn Jahren verschwand ihre Tochter nach einer Party spurlos. Den Eltern (Julika Jenkins & Justus von Dohnányi) ist die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben.

Diese völlige Verrätselung ist derart faszinierend, dass „Liebes Kind“ tatsächlich jenen Sog auslöst, auf den solche als Fortsetzungsroman konzipierten Produktionen stets spekulieren: Wie geht es weiter, welche verblüffende Enthüllung kommt als Nächstes? Dass die Serie so ausgezeichnet funktioniert, hat auch viel mit dem Ensemble zu tun. Kim Riedle spielt als geschundene, gedemütigte und missbrauchte Frau, die ihre Dämonen nicht los wird, zwar eine zentrale Rolle, aber der heimliche Star ist die junge Naila Schuberth. Sie verkörpert das Mädchen enorm fokussiert und quasi ohne mit der Wimper zu zucken; auf diese Weise hält sie Hannah perfekt in der Schwebe. Natürlich sind alle voller Mitgefühl, Schwester Ruth ebenso wie der verständnisvolle Kinderpsychologe (Özgür Karadeniz), aber Kleefelds Inszenierung sorgt dafür, dass das Kind von einer unausgesprochenen Frage begleitet wird: Ist es wirklich das Unschuldslamm, das alle in ihm sehen?

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Entsetzen macht sich breit bei Kommissarin Aida Kurt (Haley Louise Jones) & ihrem Team. Sind sie in eine Falle getappt? Erst am Ende wird das perfide Rätsel gelüftet.

Hannahs Pendant unter den Erwachsenen ist die zuständige Ermittlerin, auch sie verzieht während der Arbeitszeit kaum eine Miene. Im Roman gibt es diese Figur nicht, aber die Serie ist ohne sie kaum vorstellbar: Weil Kripokommissarin Aida Kurt (Haley Louise Jones) davon ausgeht, dass Hannahs Bruder noch eingesperrt ist und verdursten könnte, setzt sie sich über die Anweisung ihres Vorgesetzten hinweg und lässt das Gelände von einem SEK-Team durchsuchen. Mit großem Geschick kombiniert das Drehbuch solche packenden Gegenwart-Szenen mit den Rückblenden ins Haus, die offenbaren, wie streng strukturiert jeder Tag ablief. Selbst die vermeintliche Lena kann die entsprechende Konditionierung nicht abschütteln: Ihr Körper mag dem Kerker entronnen sein, aber ihr Geist ist noch gefangen. Die Stimme des scheinbar gottgleichen Peinigers, der alles sieht und alles weiß, begleitet sie auf Schritt und Tritt: „Ich bin immer bei dir.“ Umso stärker der Kontrast zu Hannahs Sonnenscheinfluchten, bei denen sie von ihrer strahlend schönen jungen Mutter (Jeanne Goursaud) begleitet wird.

Zum Schluss ergeben die vielen Puzzleteile wie durch Zauberhand ein perfides Gesamtbild; die letzte Folge ist der Höhepunkt dieser gruselig guten, handwerklich auf hohem Niveau umgesetzten und ausnahmslos vorzüglich gespielten Serie. Diese Qualität war offenbar schon dem von Grimme-Preisträgerin Kleefeld („Arnies Welt“, 2006) konzipierten Drehbuch anzumerken: Für die Bildgestaltung konnte die Produktion mit Martin Langer und Alexander Fischerkoesen zwei der hierzulande besten ihres Fachs gewinnen; die Musik schrieb mit Gustavo Santaolalla („Brokeback Mounttain“, „Babel“) ein zweifacher „Oscar“-Preisträger.

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Netflix

Mit Kim Riedle, Naila Schuberth, Haley Louise Jones, Hans Löw, Justus von Dohnányi, Julika Jenkins, Birge Schade, Özgür Karadeniz, Seraphina Maria Schweiger, Sammy Schrein, Jeanne Goursaud, Christian Beermann, Max Woelki

Kamera: Martin Langer, Alexander Fischerkoesen

Szenenbild: Cordula Jedamski

Kostüm: Genoveva Kylburg

Schnitt: Renata Salazar Ivancan, Christoph Cepok

Musik: Gustavo Santaolalla, Juan Luqui

Produktionsfirma: Constantin Television

Produktion: Tom Spieß, Friederich Oetker

Headautor*in: Isabel Kleefeld

Drehbuch: Julian Pörksen, Isabel Kleefeld

Regie: Isabel Kleefeld, Julian Pörksen

EA: 07.09.2023 10:00 Uhr | Netflix

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