„Körperliche Krankheiten kann man behandeln, seelische Krankheiten führen zur Ausgrenzung“, sagt Regisseurin Maris Pfeiffer. Auch als Filmemacher oder Drehbuchautor bekommt man diese kollektive Angst zu spüren. Denn wenn sich nicht gerade Dieter Pfaff als Psychologe Bloch den seelischen Selbstauflösungs-Prozessen entgegenstemmt und seinen weiten Mantel der Nächstenliebe über das Reich der menschliichen Ängste und Depressionen legt, gehören psychische Krankheiten nicht gerade zu den Themen, nach denen sich Redakteure und Dramaturgen sehnen. „Diese Krankheiten haben etwas sehr Irreales, sind dem Zuschauer oftmals fremd“, weiß denn auch die Autorin Hannah Hollinger. Außerdem sind Spannungen der Seele nicht immer so augenscheinlich wie ein körperliches Gebrechen. Um möglichst viele Zuschauer anzusprechen, haben sich Pfeiffer, Hollinger und die WDR-Redakteurin Andrea Hanke entschlossen, „Liebe Amelie“, die Geschichte eines manisch-depressiven Teenagers, vor der bröckelnden Fassade einer normalen Familie zu erzählen.
Hannah Hollinger legt in ihren Drehbüchern immer wieder menschliche Abgründe offen. Eine psychische Krankheit ist für sie „eine Möglichkeit, sich Freiräume und Entlastung zu verschaffen in einer Welt, in der der Druck auf den Einzelnen sehr hoch geworden ist – durch die ganze Schnelllebigkeit, die zunehmende Orientierungslosigkeit und die Kurzlebigkeit von Beziehungen“.
Einfühlsam und sensibel erzählt Regisseurin Maris Pfeiffer die Geschichte einer existenziellen Krise. Glaubhaft und ohne Pathos in Szene gesetzt.“ (TV-Spielfilm)
Alles scheint bestens. Jedenfalls für die Eltern. Gerade ist man vom Land nach München gezogen, wo Vater Bernd endlich wieder eine Stelle bekommen hat. Mutter Kristin arbeitet als Pflegerin in einer Sozialstation. Eine Familie wie 1000 andere auch. Folglich fallen die Eltern aus allen Wolken, als die 17-jährige Tochter Amelie versucht, sich mit Zyankali das Leben zu nehmen. Als einmaligen Ausrutscher, als Überreaktion tut es vor allem die Mutter ab, die in der Folgezeit ihre immer schon liebevolle Zuwendung gegenüber Amelie noch verstärkt. Doch die Symptome einer psychischen Erkrankung werden deutlicher. Das Mädchen fällt immer häufiger in Phasen des Verwirrtseins. Auch die Eltern, deren gegenseitige Schuldzuweisungen die Lage nicht gerade entspannen, können das bald nicht mehr übersehen.
„Liebe Amelie“ ist ein Film, der sein Thema ernst nimmt und weitgehend auf dramaturgische Stereotypen und emotionale Effekte verzichtet. Hollinger und Pfeiffer setzten auf „die Magie der leisen Töne“, die unlängst „Der Spiegel“ – dem Zeitgeist auf der Spur – im Chor der populären Medien ausmachte. Gesucht werden die Gesichter und, wie vergangene Woche in dem Suchtdrama „Sehnsucht“, ebenfalls eine WDR-Produktion, angestrebt wird ein unaufgeregter Realismus, der von innen kommt. Die Eltern-Darsteller, die Grimme-Preisträgerin Gabriela Maria Schmeide („Die Polizsitin“) und Oliver Stokowski („Der Ermittler“), treffen genau den Ton, den man sich in einer solchen Familie vorstellen kann: gut meinend – und doch völlig ratlos. Emotional außer sich – und doch eher leise. Eine Mutter, die alles richtig machen will in einer Situation, in der es nichts „richtig“ zu machen gibt.
Kwiatkowsky ist „schlicht ein Ereignis. Neben der ungemein intensiven Verkörperung eines Mädchens, das alle Höhen und Tiefen durchlebt, musste die Zwanzigjährige auch eine ziemlich delikate Herausforderung meistern: Als Amelie herausfindet, dass ihr Vater für einen Pharma-Konzern arbeitet, der Tierversuche durchführt, kettet sie sich nackt ans Tor seiner Firma.“ (kino.de)
Maria Kwiatkowsky erhielt für „Liebe Amelie“ den Förderpreis Deutscher Film.
Maris Pfeiffer wollte keinen klassischen Themenfilm machen. Sie sah von vornherein das Potenzial an universalen Gefühlen, die in dem Stoff steckten. „Es geht um eine Familie, die ein Problem hat, das sie nicht so einfach bewältigen kann“, so Pfeiffer. „Und es geht um eine Mutter, die ihr Kind los lassen und seinen Weg finden lassen muss.“ Das Abnabelungsthema dürfte vielen den Zugang zum Film erleichtern. Das war auch ganz im Sinne der Autorin und gelernten Sozialpädagogin Hannah Hollinger: „Wir wollten dem Zuschauer das Thema nahe bringen, ohne die Krankheit zu verharmlosen.“ Deutlich wird auch, dass es in „Liebe Amelie“ mehr ist als jugendliche Melancholie, die die von Maria Kwiatkowsky glänzend gespielte Titelfigur umtreibt. Die Leiden der jungen Amelie sind offensichtlich ein Ventil. „Die Krankheit ist eine Möglichkeit, sich Entlastung zu verschaffen in einer repressiven Welt“, so sieht es die Autorin. Im Film wird keine große Ursachenforschung für manisch-depressives Verhalten betrieben. Das spiegelt denn auch den Stand der Wissenschaft, die oft ähnlich ratlos vor den „verrückten“ Handlungen steht wie die Eltern in diesem bemerkenswerten TV-Drama.