Nur nicht als Juden auffallen, ist die Lebensmaxime der Stegers im Nachkriegsdeutschland. Während andere Holocaust-Überlebende auswandern, vornehmlich in die USA, bleibt das Ehepaar, das – weil’s deutscher klingt – seinen Namen in Stöger geändert hat, im Land der Mörder und Mitläufer. Die Geburt ihrer Tochter Laura wollen beide 1947 als Neuanfang sehen. Die Familie versucht sich, so gut es geht an die bayerischen Verhältnisse anzupassen. 1951 eröffnen sie ein Gasthaus und nennen es Neuschwanstein. Später ziehen sie in die Münchner Reformhaussiedlung „Borstei“, wo Laura eine alles in allem glückliche Kindheit verbringt, die allerdings nicht ganz unbelastet ist von den traumatischen Erlebnissen der Eltern, von Verfolgung und KZ. „Fremde Leute gehen uns nichts an; von Zuhause wird nichts erzählt“, so die Devise der Stegers. Von früher erzählen die Eltern Laura so gut wie nichts. Weshalb beispielsweise erfährt sie die erste Umarmung von einer Nonne und nicht von ihrer Mutter? Weshalb schlägt sie ihr Vater, weil ein Deutscher ihr das Leben gerettet hat?
Die Handlung von „Let’s go!“ setzt 1968 ein. Die 21-jährige Laura kehrt wegen eines Trauerfalls aus den USA in die alte Heimat zurück. Mit ihrer Freundschaft und später Liebe zu „Gabi“, der bis 1962 mit seinen Eltern auch in der „Borstei“ wohnte, hat sie sich früh eine Gegenwelt zu ihrem als „seltsam“ empfundenen Elternhaus geschaffen. Entsprechend früh hat sie geheiratet und ist ihrem Liebsten ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gefolgt. Der Tod ihres Vaters und die im Koma liegende Schwester sind nun Ausgangspunkt dafür, dass sie endlich verstehen will, weshalb alles während ihrer Jahre in München so war, wie es war, und weshalb vor allem ihre Mutter so ist wie sie ist: Weshalb so wenig spürbare Herzlichkeit? Weshalb keinerlei körperliche Nähe? Selbst jetzt, im Moment des gemeinsamen Schmerzes, stößt diese ihre Tochter von sich. Sie klammert sich lieber an die jüdischen Rituale, als in der Nähe zu ihr Trost zu finden. Als Zuschauer ahnt man, dass es da noch eine andere, eine ganz individuelle Geschichte hinter der Geschichte von KZ und Massenmord geben muss.
Michael Verhoevens Film beginnt als schwerblütiges Drama. Eine Tochter, der als Kind die Rücksichtnahme gegenüber der Mutter eingebläut wurde, sieht sich schon wieder einer Frau gegenüber, die Schuldgefühle machen kann, der aber anscheinend alle mütterlichen Instinkte fehlen. Die Kälte dieser Figur („Wieso hab ich Kinder geboren?“), die Anflüge von Verzweiflung und Pessimismus schon vor Jahren („Warum soll die Menschheit weiterleben?“), das „Geheimnis“ dieser jüdischen Mutter werden zur Triebfeder der Geschichte, die als eine Art Familienchronik in markanten Sequenzen erzählt wird. Die Rückerinnerungen werden immer wieder unterbrochen durch emotional signifikante Situationen aus der Gegenwart: Besuche im Krankenhaus, Versuche, mit der Mutter zu reden oder Nähe herzustellen und Alltagsszenen mit Ehemann Gabriel oder einem ehemaligen, 20 Jahre älteren Verehrer (und Ersatzvater), den Laura bereits mit 18 Jahren heiraten wollte, um ihrer Familie zu entfliehen. Die Mehrfachbesetzungen, allein Laura wird von sechs Darstellern verkörpert, in anderen Filmen oft ein Manko, stört in „Let’s go!“ nicht. Illusionierung ist hier nicht das vornehmliche Ziel. Dass der Zuschauer die Zusammenhänge versteht, die Knackpunkte im Leben der jungen Hauptfigur erkennt – darum geht es Verhoeven. Sein Film ist entstanden nach Motiven des autobiografischen Romans „Von Zuhause wird nichts erzählt“ von Laura Waco, die jahrelang hin und her gerissen war zwischen dem Gefühl, ein „Münchner Kindl“ zu sein, und ihren Eltern, die sie nicht deutsch werden lassen wollten.
Nichtsdestotrotz kann dieser Film auch als eine etwas andere bayerische Sittengeschichte der Nachkriegszeit gesehen werden. „Let’s go! erzählt nicht nur vom Jüdischsein im schwarzen Bayern wenige Jahre nach dem Holocaust; er erzählt auch von Kindheit, Pubertät und erster Liebe, vom privaten Wirtschaftswunder, vom ersten Auto, von der ersten Reise nach Italien. Entscheidend für die Vielschichtigkeit dieser Geschichte des jüdischen Erbes in Deutschland nach 1945 ist die Perspektive: Es ist der Blick der Nach-Holocaust-Generation, ein unschuldiger Blick, dem aber die Traumata der Elterngeneration nicht verborgen bleiben. Im Falle der Heldin ist es die Entwicklung von einer ziemlich deutschen Sozialisation zu einer zunehmenden Identifizierung mit dem Jüdischsein. „Jude, dass ist beinahe wie ein Fluch“, empfindet jene Laura. „Ich bin ein Jude!“ – es dauert lange, bis sie es aussprechen kann.
Verhoeven ist ein Regisseur der alten Schule. Die Inszenierung dürfte für junge Zuschauer bisweilen etwas bedeutungsschwer wirken (was auch am Thema liegt). Die auf das Szenische, das Ausschnitthafte abzielende, von Schauspielern und Sinn-Bildern getragene Erzählweise ist aber keineswegs unpassend für diese 40er-bis-60er-Jahre-Geschichte, die sich wohl kaum im modernen Spiel der Beiläufigkeit darstellen ließe. Bei aller thematischer Schwere besitzt der Film durchaus Sinnlichkeit und der Kindermund sorgt für einige zumindest tragikomische Momente. Alice Dwyer ist das Bindeglied zwischen den Zeiten, ihr Blick öffnet dem Zuschauer den Film. Sie ist das Stimmungsbarometer, sie reflektiert die Depressionen der Mutter, sie bindet Sinn und Sinnlichkeit des Films zwischen nachhaltigem Spiel und flüchtiger Sixties-Stil-Ikonografie. Sehr überzeugend auch – ganz besonders in ihrer mimisch-gestischen Präsenz – die Elterndarsteller Naomi Krauss, Katharina Nesytowa und Maxim Mehmet. Je mehr sich „Let’s go“ befreit aus dem Käfig der rituellen Trauer und der unverständlichen Gefühlskälte, je mehr er in die Chronologie des Familienalltags eintaucht, je selbstverständlicher das Springen durch die Zeiten, umso mehr schlägt einen diese Geschichte in ihren Bann. Von wegen „Let’s go!“ Ein bisschen Zeit sollte man ihr schon geben…