Die einen nennen es christliche Nächstenliebe, die anderen Engagement ohne Eigennutz, und für Psychologen ist es schlicht ein Helfersyndrom. Die Rede ist von Menschen, die ihren Lebenssinn aus dem unentgeltlichen Beistand beziehen, den sie anderen gewähren. Im Grunde funktionieren Filme über solche Personen genauso wie Krimis: Sie beginnen mit einem Problem und begleiten die Hauptfigur fortan bei ihrer Suche nach einer Lösung. Während es im Krimi in der Regel jedoch nur um einen Fall geht, müssen die Helfer eine Reihe größerer & kleinerer Konflikte lösen, und mindestens einer betrifft sie selbst. Das macht diese Menschen zu perfekten Protagonisten für Filmreihen, weil sich so gleich mehrere Geschichten erzählen lassen. Lena Lorenz (Patricia Aulitzky) war nicht die erste Figur dieser Art, aber sie ist eine Art Prototyp; ähnlich wie die Versorgungsassistentin aus der ARD-„Eifelpraxis“ oder die Dorfhelferin aus der ZDF-Reihe „Frühling“ versteht die Hebamme ihren Beruf als Berufung und kümmert sich neben den körperlichen auch um die seelischen Nöte ihrer Patienten.
Der Titel der siebten Episode, „Lebenstraum“, mit der das ZDF eine vierteilige neue Staffel startet, bezieht sich zwar auf eine Frau, die sich mit Ende vierzig endlich einen lange gehegten Wunsch erfüllen will, aber er steht natürlich auch für die Heldin, deren Dasein allerdings noch einige Ecken und Kanten hat: Ihr Freund Quirin (Jens Atzorn) könnte der Richtige sein, aber sie traut sich nicht; und das Zusammenleben mit Mutter Eva (Eva Mattes) auf dem Bauernhof hat mindestens so viele Nach- wie Vorteile. Der zentrale Handlungsstrang ist jedoch Anja (Katharina Müller-Elmau) gewidmet: Nach fast dreißig Jahren, in denen ihr Leben ausschließlich um die Familie gekreist ist, hat sie mit einer Freundin eine Firma gegründet, die Bergradtouren nur für Frauen organisiert. Ausgerechnet die geplante Fahrt nach Venedig aber muss sie wohl absagen. Sie ist noch mal schwanger geworden und steht vor einer Entscheidung, mit der andere Frauen mit Anfang dreißig konfrontiert sind: Kind oder Karriere? Da sie bereits in der elften Woche ist, hat sie nur wenige Tage Bedenkzeit.
Foto: ZDF / Kerstin Stelter
Man muss kein Christ sein, um zu finden, dass es sich das Drehbuch (Julie Fellmann, Sarah Augstein) mit der ethisch-moralischen Seite dieser Frage etwas leicht macht. Anja bricht zwar mal in Tränen aus, doch ansonsten behandelt der Film das Thema eher leichtfertig. Aber das passt ins Gesamtbild, denn anders als die „Eifelpraxis“-Dramen setzt sich „Lebenstraum“ gerade mit dem zentralen Konflikt nicht tiefgründig auseinander. Außerdem sind einige der Gastfiguren derart klischeehaft, dass es wahlweise karikierend oder ärgerlich ist: Evas Feriengäste sind Städter, die sich am Treckerlärm stören, in den Matsch treten und keinen Schnaps vertragen; aus Sicht der Einheimischen also Weicheier. Anjas Gatte (Nicki von Tempelhoff) ist erfolgreicher Anwalt und ausschließlich mit Anzug und Krawatte zu sehen, ein Signal dafür, dass für ihn der Beruf stets an erster Stelle stand; Anja bezeichnet sich mal als „alleinerziehende Mutter mit Trauschein“. Das schwule Paar hat ähnlichen Ärger: Almwirt Franz hat nie Zeit für seinen Freund Basti, weil er auch am Wochenende arbeiten muss.
Da der Film noch weitere Geschichten erzählt (ein Großvater zum Beispiel ist nach einem Unfall in der Reha, fühlt sich abgeschoben und tritt in den Hungerstreik), bleibt für die einzelnen Ebenen nicht viel Zeit. Deshalb wirkt „Lebenstraum“ einerseits atemlos, weil die Handlung mitunter im Minutentakt von einem Strang zum anderen hüpft. Andererseits baut die Regie (Michael Kreindl hat auch die ersten Episoden inszeniert) keinerlei Spannung auf. Die überwiegend heitere Musik und die Sommerbilder legen zudem nahe, dass die geschilderten Konflikte alle halb so wild sind. Daran ändert auch der Nervenkitzel gegen Ende nichts mehr, als Anja einen Autounfall hat und Lena in Lebensgefahr gerät. Immerhin gibt es einen cleveren Cliffhanger, weil Eva endlich dem hartnäckigen Werben von Vinz nachgibt, ausgerechnet jenem Mann, der nach Lenas Ansicht Schuld am Tod ihres Vaters ist. Ansonsten hat Vinz nicht viel mehr zu tun, als mit seinem alten Porsche-Cabrio durch die Gegend zu fahren oder sich mit Eva über den Königssee rudern zu lassen. Zu sehen gibt es in „Lena Lorenz“ dank des Schauplatzes im Berchtesgadener Land ohnehin genug, weshalb es fast selbstironisch klingt, wenn eine Urlauberin zu Beginn feststellt, die Gegend sehe aus „wie eine Filmkulisse“.
Foto: ZDF / Kerstin Stelter
Soundtrack:
„Lebenstraum“: Silbermond („Leichtes Gepäck“, Titellied), Passenger („Life’s For The Living“), Damien Rice (“9 Crimes”).
“Gegen alle Zweifel“: Tom Odell („Another Love“), Milow („Howling At The Moon“), Alicia Keys (“Girl On Fire”), Lions Head (“See You”), “The Strumbelles (“Spirits”), Alin Coen Band (“Wolken”)
Interessanterweise hinterlässt der zweite Film, „Gegen alle Zweifel“, einen etwas differenzierteren Eindruck, obwohl mit Ausnahme der neuen Gastdarsteller vor und hinter der Kamera exakt das gleiche Personal am Werk war. Nun zeigt sich, warum das ZDF „Lena Lorenz“ als Familienserie bezeichnet: Die einzelnen Episoden bauen in der Tat aufeinander auf, alle Handlungsstränge werden fortgesetzt, selbst wenn sie sich dabei letztlich im Kreis drehen. Lena zweifelt immer noch an ihrer Beziehung, beim schwulen Pärchen rückt nun Basti stärker in den Vordergrund, weil ihn ein süßer Feriengast (Paula Schramm) mit Hingabe und schließlich auch Erfolg anbaggert, und Eva bucht unangekündigt ein Flugticket nach Vietnam, um ihre Kurzzeitliebe David (Christoph Grunert) zu besuchen. Hauptfigur der in sich abgeschlossenen zentralen Geschichte ist eine blinde Frau, die ihre Schwangerschaft nutzen will, um sich endlich von ihrer dominanten Mutter zu lösen. Sinja Dieks spielt das sehr glaubwürdig, aber ansonsten ist die Figurenverteilung ebenso schlicht wie in „Lebenstraum“. Den Gegenpart verkörpert Lena Stolze, die die Mutter genauso einseitig und unsympathisch anlegen muss wie Nicki von Tempelhoff den Ehemann in „Lebenstraum“. Der filmische Rhythmus wirkt diesmal allerdings flüssiger und nicht mehr so sprunghaft. Zum dramaturgischen Muster gehört auch eine Atempause vor dem letzten Akt, die eine Art Merkmal vieler Ensembleproduktionen (wie beispielsweise der „Frühling“-Reihe) ist: Der Film schaut abends oder nachts kurz mal bei allen handelnden Personen vorbei; ein von Schmusepop untermalter Moment der Ruhe, bevor es auf die Zielgerade geht.