Eine Feministin als Hausfrau wider Willen
Sie ist nicht so, wie man sich eine türkische Mutter vorstellt. Und das schon in den 1960er Jahren. Latife Malek ist Kemalistin, Feministin, sie hat drei Töchter, lebt in Istanbul und will dort Mathematik studieren. Doch dann stirbt ihr Schwiegervater und ihr Mann Burhan muss die Zahnarztpraxis im fernen Deutschland übernehmen. Die Abmachung, dass jetzt ihre Karriere dran ist, ist nur noch Makulatur. Und so muss die Familie die türkische Metropole gegen die niederrheinische Provinz eintauschen. Ein Kulturschock. Doch die sonst so kampfeslustige Latife fügt sich in ihr Schicksal, geht die Jahre als Frau an des Zahnarztes Seite pragmatisch an, ohne je in dieser Rolle aufzugehen. Als dann aber nichts wird aus der Rückkehr nach Istanbul, verschlechtert sich die häusliche Atmosphäre bei den Burhans sichtlich. Die 1970er Jahre aber bringen neuen Schwung – und Latife kann endlich in Köln ihre akademische Laufbahn fortsetzen. In der Ehe aber kriselt es weiter; nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr der smarte Professor Martin immer deutlichere Avancen macht.
Foto: Degeto / Christian Stollwerk
Emanzipation, Integration, Migration
Der Fernsehfilm „Leberkäseland“, der im Rahmen der ARD-Themenwoche „Heimat“ ausgestrahlt wird, ist entstanden nach dem Roman „Tante Semra im Leberkäseland“ (2008). Autorin ist Lale Akgün, die in den 00er Jahren für die SPD im Bundestag saß und sich in ihrer politischen Arbeit besonders mit Themen wie Migration und Integration einen Namen machte. In ihrem Roman erzählt die Diplom-Psychologin vom Leben einer türkischen Familie in Deutschland: Es ist ihre eigene Familie – und es ist ihre Mutter, die sich jahrelang im Haushalt versklavt fühlte, eine vornehme, kluge Frau, einen Kopf größer als ihr Mann (real oder nur ein Sinnbild?) und weitgehend humorlos. „Herrlich komische Geschichten von Türken und Deutschen, die so unterschiedlich und doch auch wieder so gleich sind“, wirbt der Fischer-Verlag für den Roman. Dass die Töchter ihre neue Heimat lieben und irgendwann deutscher sind als jeder Deutsche, ist sowohl im Buch als auch im Film ein durchgängiges Motiv. Die früh emanzipierte Mutter der Akgüns/Maleks sieht diesen kulturellen Rückschritt (müssen es aber auch ausgerechnet die deutschen Adelshäuser sein, für die eine ihrer Töchter schwärmt?!) mit Schrecken und wittert überall „die Frau unter der Knute des Mannes“.
„Eine alternative Integrationsgeschichte aus der Sicht einer gebildeten Türkin zu erzählen, ist interessant, nur leider fehlt der fein ausgestatteten Zeitreise der dramaturgische Bogen.“ (TV-Spielfilm)
Foto: Degeto / Christian Stollwerk
Seine „zweite Heimat“ finden und ausleben
Autor-Regisseur Nils Willbrandt hat den Roman fürs Fernsehen adaptiert. „Leberkäseland“ folgt zwar nach einer Rückblende, von 1984 in die frühen Sixties, der Chronologie der familiären Ereignisse, wirkt insgesamt aber wie der Roman episodisch und anekdotenhaft. Die Schaltzentrale der Familie und zugleich narratives Kraftzentrum ist Latife, die von der Deutsch-Iranerin Neda Rahmanian mit starker ikonografischer Präsenz – zwischen Farah-Diba-Styling der 60er und Intellektuellen-Wuschelkopf der 70er Jahre – beeindruckend verkörpert wird. Die Hauptfigur hält gekonnt die Waage zwischen Nähe und Distanz, zwischen Sympathie, die man ihr als Zuschauer entgegenbringt, und gelegentlichem Unverständnis, mit der sich ihre dogmatische Verbissenheit quittieren lässt. Das ist der Vorteil einer literarischen Vorlage: ein vielschichtiger Charakter, in dem sich die gesellschaftlichen Widersprüche spiegeln. Keine Allerweltsheldin. Das macht diese Geschichte gewichtiger, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Setzt Willbrandt auch auf Ironie und Erzähltechniken der Komödie, die konservative Gesellschaft des Wirtschaftswunders und der Geschlechter-Diskurs sind in „Leberkäseland“ allgegenwärtig. So verständnisvoll der deutschtürkische Ehemann auch sein mag, so versteckt er doch nur hinter seiner Liebe und dem Stolz auf seine hochbegabte Ehefrau den Wunsch, dass ihm seine Frau den Rücken freihalten möge. Doch irgendwann merkt er, dass er mit seiner Latife in jeder Hinsicht nicht mithalten kann. „Leberkäseland“ ist ein Film über die innere Zerrissenheit, über kulturelle Kompromisse und über das, was Edgar Reitz – in seinem gleichnamigen Film – „die zweite Heimat“ nannte, das, was einen kreativen Menschen antreibt, die Leidenschaft für eine Sache, für die er brennt.
Foto: Degeto / Christian Stollwerk
Lale Akgün über ihre Deutschlanderfahrung:
„Viele unserer neuen Nachbarn dachten, wir wären gerade von den Bäumen herabgestiegen. Und meine Mutter fand wiederum in Deutschland vieles altmodisch und überholt. Andererseits dachten viele, wir seien die Rückständigen. Es ist Ignoranz, weil man nicht weiß, wie es anderswo aussieht. Aber Arroganz, weil man davon ausgeht, dass die anderen weit unter einem stehen.“
Ausflug in die bundesdeutsche Alltagsgeschichte
So locker die Verpackung auch ist: „Leberkäseland“ erzählt davon, dass Migration und Integration kein Kinderspiel sind und dass einer multikulturellen Existenz nicht mit einer Friede-Freude-Eierkuchen-Dramaturgie beizukommen ist. Apropos Dramaturgie: Gelegentlich hätte man dem Film noch etwas mehr Konzentration auf das Wesentliche und eine etwas markantere Strukturierung gewünscht, also etwas weniger „Werktreue“ und weniger Zufallsrhetorik („und dann passierte…“). Dass die Familie sich zwar einen Deutschlehrer nimmt, aber jeder von Anfang an die Muttersprache der neuen Heimat perfekt beherrscht, mag ein bisschen irritieren, ist im Rahmen dieses eher wie ein bunter Bilderbogen als in realistischer Anmutung erzählten Films (wie der vorzügliche Zweiteiler „Zeit der Wünsche“) aber nicht allzu störend. Unterm Strich bleibt „Leberkäseland“ ein sehenswerter Ausflug in die bundesdeutsche Alltagsgeschichte, ein Sujet & Genre also, das das öffentlich-rechtliche Fernsehen auch fiktional öfter zu seinem Gegenstand machen sollte. (Text-Stand: 7.9.2015)