Juliane (Anna Schudt) ist verstört, verzweifelt, gerät leicht in Panik, sie kriegt es nicht in ihren Kopf: Ihr Lebensgefährte Johann (Maximilian Brückner) hat sich das Leben genommen. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Oder hat sie mögliche Signale übersehen? „Warum hast du mir nie was gesagt? Ich hätte es doch sehen müssen. Ich hätte dir doch helfen müssen.“ Gedanken wie diese wird sie nicht los. Und überall, wo sie geht und steht, taucht Johann auf und feixt sie an. Ihre beste Freundin Rike (Katharina Wackernagel) hilft ihr, sie aus der Depression zu holen und kleine Fluchten aus der Antrieblosigkeit zu finden. Gemeinsames Weihnachtsfest, Urlaub in Schweden mit Rikes Familie, mit Ehemann Oliver (Kai Schumann) und ihren Kids. Im ersten Jahr nach dem Tod ist bloßes Überleben Julianes Ziel. Im zweiten heißt es (wieder) Leben lernen. Neben Rike wird sie dabei von einer Therapeutin (Victoria Trauttmansdorff) unterstützt. Eine wichtige Rolle beim Heilungsprozess könnte die Musik spielen: Juliane ist Cellistin in einem Quartett. Und noch etwas hilft entscheidend: Die Frau, deren Kopf niemals ruht, beginnt zu laufen. „Laufen ist super. So schön stumpf. Man muss nicht mehr denken.“
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Ganz so einfach erweist es sich nicht, dieses Zurück-ins-Leben, in dem ZDF-Fernsehfilm „Laufen“. Lange Zeit scheint sich diese trauernde Frau zu suhlen in Schmerz & Selbstmitleid. „Du pamperst deine Trauer“, wirft ihr sogar die Freundin vor, die ihr so treu zur Seite steht. Auch wenn nach einem Jahr Juliane einen neuen Weg einzuschlagen versucht, sie die belastenden Erinnerungen nur noch selten aktiv abruft: Der Schmerz ist nicht verflogen, er sitzt nur nicht mehr so direkt unter der Haut, kann aber jederzeit ausbrechen, wenn beispielsweise die Kinder der Freundin ein Lied anstimmen, welches die Liebe zwischen Juliane und Johann symbolisiert. „Du willst unglücklich sein“, heißt es kurz vor dem Finale. Rike braucht nach fast zwei Jahren „Betreuung“ eine Pause von dieser anstrengenden Freundschaft. Der Vorwurf ist aus der Emotion der Figur geboren, hat als retardierendes Moment auch dramaturgische Gründe, er ist aber – objektiv betrachtet – nicht ganz richtig: Die Trauernde ist durchaus ihren Weg gegangen. Nur die ersten Monate reagiert sie oft trotzig, schroff und ungerecht. Sie flüchtet sich in Zynismus und kultiviert eine für sie offenbar hilfreiche Form der Lebensverachtung. Mit dem Laufen und der Therapie wird der Schalter umgelegt. „Trennen Sie sich – so gut es geht – von seinen Sachen. Putzen Sie ihn raus“, rät die Psychologin. „Den Brief auch.“ Dies fällt ihr schwer. Von wegen „Brief“. Ein abgerissener Zettel, ein paar dürre Abschiedszeilen. War sie ihm so wenig wert? Oder ist das ein Zeichen, wie sehr Johann mit dem Leben abgeschlossen hat? Immer wieder gibt es Futter zum Grübeln.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Sich zurück ins Leben kämpfen gehört zu den gängigsten Motiven der meist leichtgewichtigen telegenen Selbstfindungstrips, wie sie gern am Freitag in der ARD oder am Sonntag im ZDF erzählt werden. Vor Jahren wurde ein solcher Lebenskampf noch gelegentlich realistisch in Form mehr oder weniger schwerer psychologischer Dramen verhandelt. Filme wie „Zurück im Leben“, „Leben wäre schön“ (beide 2003) oder das Burnout-Drama „Brief an mein Leben“ (2015) findet man nur noch selten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Dass es nun ausgerechnet zu „Laufen“, der Verfilmung des gemeinhin unverfilmbar gehaltenen Romans von Isabel Bogdan, gekommen ist, könnte mehrere Gründe haben: die Vision von Drehbuch-Autorin Silke Zertz („Auf dünnem Eis“, „Sugarlove“), die gut lesbaren, aber zur TV-Primetime weniger gut hörbaren Bewusstseinsströme der oft widerspenstig Trauerarbeit leistenden Cellistin in eine Dramaturgie zu überführen, die zwar von der gängigen Spannungsdramaturgie abweicht, dafür aber hautnah in diesen eigenwilligen Charakter eindringt. Möglicherweise zielt der Film gerade dadurch mittenrein in die Herzen interessierter Zuschauer*innen. Die Aussicht, einen solchen schwierigen Stoff mit einer Ausnahme-Schauspielerin wie Anna Schudt zu veredeln, dürfte mit ein Grund dafür sein, dass sich die Produzentin Heike Wiehle-Timm und auch das ZDF für dieses Projekt rasch erwärmen konnten. Denn Schudt, die 2022 mit einem Paukenschlag ihren Abschied vom „Tatort“ Dortmund nahm, brilliert(e) in Kämpferinnen-Rollen stets ganz besonders: so als Gaby Köster in der Tragikomödie „Ein Schnupfen hätte auch gereicht“ (2017), für die sie den Emmy Award gewann, und in „Aufbruch in die Freiheit“, dem 1970er-Jahre-Drama um die Proteste gegen den Paragraphen 218, der ihr noch mehr Kritikerlob und gleich zwei Preise (Goldene Kamera, Bayerischer Fernsehpreis) einbrachte.
Foto: ZDF / Marion von der Mehden
Anna Schudts Figur ist die Hauptschlagader des Films, der emotionale Pulsgeber. Sie ist fast in jeder Einstellung. Eine Ausnahme bilden die Szenen, in denen der Lebensgefährte den Suizid plant und in die Tat umsetzt. Ansonsten fällt der Blick des Zuschauers immer auf Juliane, auf ihre subjektive Sicht der Dinge: kopflos, grübelnd, in Tränen ausbrechend, wütend, sich selbst verfluchend; und immer wieder sieht man sie beim Laufen, japsend auf Großstadtasphalt oder sich mit anderen Joggern vergleichend im Park. Aber es gibt auch erste Momente der Einsicht und Nachsicht. Momente stiller Freude: ein Cello-Solo steht in Aussicht, und Rike hat sie kurzerhand zu einem öffentlichen Lauf angemeldet. „Laufen“ erzählt von einem langwierigen Heilungsprozess. Zwei Schritte vor, einer zurück. Eben noch Mut geschöpft, schon folgen Zweifel. Da solche Sprünge linear erzählte Geschichten ausbremsen, war es klug, die Chronologie aufzubrechen, in kurzen Episoden, wichtige, wegweisende Situationen der zwei Jahre zu montieren. Diese Bruchstücke setzen sich unter Mithilfe des Zuschauers am Ende dann wie ein Puzzle zusammen. Rainer Kaufmann, ein Regisseur für das Besondere, hat die zeitlichen Übergänge mitunter filmisch sehr elegant gelöst. Im Roman ist es der innere Monolog, der Bewusstseinsstrom der Hauptfigur, im Film ist es der Fluss der Bilder, geknüpft an das Verhalten der Trauernden, der den Rezipienten bewegt. Auf der Zielgeraden läuft sich Juliane ins Leben zurück. Anna Schudt schenkt ihr ein Lächeln aus tiefstem Herzen. Ein Lächeln der Erleichterung. Ganz am Ende greift sie zum Cello. Die Schauspielerin spielt das Instrument selbst. Man sieht es nicht nur, man fühlt es. Fünf Minuten kein einziges Wort. Drei Minuten davon ein musikalisches Requiem, eine Romanze in Moll, die bereits im Score des Films einfühlsam vorbereitet wurde. Dann noch einmal ein Lächeln. Ein Lächeln, das nach all dem Leid guttut, das (einem in Erinnerung) bleiben wird – so wie dieser außergewöhnliche, wahrhaftige Film. (Text-Stand: 27.3.2023)