Kühn hat zu tun

Thomas Loibl, Volker Einrauch, Jan Weiler, Ralf Huettner. Unvollendetes Meisterstück

Foto: WDR / Bernd Schuller
Foto Rainer Tittelbach

„Kühn hat zu tun“ (WDR / Olga Film) ist kein klassischer Krimi, sondern ein mit feiner Ironie überzogenes Drama über einen Menschen, der zufällig Kriminalkommissar ist. Zwei Fälle, ein brutal ermordeter alter Mann und ein verschwundenes Mädchen, sein Privatleben, die Familie, der Alltag in einer Vorstadtsiedlung mit seltsamen Bewohnern, die Traumata seiner Jugend: All das türmt sich vor ihm auf. Thomas Loibl brilliert als „Mann, der in der Mitte des Lebens so langsam auseinanderfällt“, wie Vorlagengeber Jan Weiler seine Romanfigur umschreibt. Kühn hört Stimmen und Musik, sieht Ströme von Blut. Diese sinnliche Durchlässigkeit, dieses Verschmelzen von inneren mit äußeren Reizen, haben Huettner und seine Gewerke sehr eindrucksvoll umgesetzt. Am Ende gewinnt man den Eindruck, als ob in diesem Stoff sogar mehr stecken könnte, als ein einzelner Fernsehfilm in der Lage ist zu erzählen. Als 90-Minüter ist der Film große Fernsehkunst. Für eine Serie ist diese Vorlage ein Hammer.

Verbrechen, falsche Alibis, die Nachbarn „am Arsch“; Kühns Kopf spielt verrückt
Martin Kühn (Thomas Loibl) weiß langsam nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Zuerst verschwindet ein Mädchen aus der Nachbarschaft, dann wird unweit seines Hauses die Leiche eines alten Mannes entdeckt, die mit Schnittwunden übersät ist. Was ist das für ein Viertel, in dem der Kriminalhauptkommissar wohnt! Geht hier etwa ein Ritualmörder um? Und das Mädchen scheint tatsächlich entführt worden zu sein. Die Befragungen machen die Lage nur noch unübersichtlicher: falsche Alibis, zornige Opfereltern (Lisa Wagner, Robert Stadlober), vielleicht sogar ein Fall von Identitätsklau. „Wir sind hier alle am Arsch“ – davon sind ohnehin die meisten überzeugt, die in der Weberhöhe wohnen: Denn wie sich jetzt herausstellt, wurde die Siedlung auf dem Grund einer alten Waffenfabrik errichtet. Der Boden ist kontaminiert, die Banken bleiben unerbittlich, die Bewohner sind die gelackmeierten. Auch privat läuft es bei Kühn momentan nicht rund: Der Sohn (Cedric Linus Eich) hat sich völlig von ihm entfremdet und hängt mit seiner rechtsradikalen Clique ab, und die kleine Tochter (Marlene Labahn) hat immer nur Wünsche – jetzt muss es unbedingt ein Pony sein. Und als ob die Gegenwart nicht schon kompliziert genug wäre, meldet sich jetzt auch noch Kühns Vergangenheit: Blutige Erinnerungsbilder erscheinen ihm vor seinem inneren Auge, Wahrnehmungsstörungen, Schwindel, Aussetzer, die immer beunruhigender werden. Sein Kollege (Ronald Kukulies) wundert sich, und der Staatsanwalt hat immer einen Spruch parat: „Was ist dran an dem Fall, dass der Instinktmensch Kühn seine Orientierung verliert?“ Das fragt sich auch Susanne Kühn (Dagmar Leesch). Sie muss den Laden schließlich schmeißen. „Komm mir jetzt bloß nicht mit Burnout oder so!“, macht sie gleich mal klar, was Sache ist. Ein Burnout kündigt sich wohl nicht an, aber ein altes Trauma bahnt sich seinen Weg.

Kühn hat zu tunFoto: WDR / Bernd Schuller
„Noch nie einen erotischen Live-Chat gemacht?“ Kühn (Loibl): „Ich wünschte, ich hätte die Zeit dazu.“ Als ob er nicht schon verunsichert genug wäre, diese Martina Brunner (Kim Riedle) ist schon eine ihn verwirrende Frau, und sie hat kein Alibi.

Loibl brilliert als „Mann, der in der Mitte des Lebens so langsam auseinanderfällt“
„Kühn hat zu tun“, der Titel des Romans von Jan Weiler und nun auch der Verfilmung von Ralf Huettner nach dem Drehbuch von Volker Einrauch, klingt lakonisch und ist eine kleine Untertreibung. Die Hauptfigur hat „viel zu tun“ nicht im Sinne von: alle Hände voll zu tun oder viel um die Ohren haben, nein, dieser Martin Kühn kommt geradezu an die Grenzen seiner psychischen und körperlichen Möglichkeiten. Weiler selbst sieht in ihm einen „Mann, der in der Mitte des Lebens so langsam auseinanderfällt“. Dieser Mann mit einer Narbe im Gesicht „hat auch noch andere Narben und blickt die Leute anders an“, so sein Darsteller Thomas Loibl. Die Eingangsszene, in der er ebenso ruhig wie gnadenlos einen jungen Mann verhört, der offenbar seinen Großvater im Affekt getötet hat, auch wenn er dem Kommissar eine ganz andere Geschichte auftischt, zeugt von Kühns Menschenkenntnis. „Hilflos gefangen in seinem Wunsch nach Größe“, kommentiert er die Situation – und ergänzt: „aber ich verstehe ihn“. Er weiß, wie solche Menschen ticken. Warum, das deutet ein Dialog mit dem überheblichen Staatsanwalt an: „Ich schätze Sie, weil sie aus demselben Bodensatz der Gesellschaft kommen, mit dem wir es meistens zu tun haben.“ Am Ende wird auch der Mord in der Nachbarschaft etwas mit der Herkunft des Kommissars zu tun haben, eines Mannes, der weder studiert noch Abitur hat, der sich aber viele Gedanken macht – und meist den richtigen Riecher hat, ein „Instinktmensch“, aber auch ein Grübler, einer, der sich verbeißen, der jähzornig werden kann, auch wenn ihn Thomas Loibl in der Anfangsphase eher wie einen gelassenen Riesen verkörpert. Loibl, Theaterschauspieler, aber seit Jahren mit Produktionen wie „Zeit der Helden“, „Im Zweifel“ oder dem „Tatort – Borowski und das Haus der Geister“ eine feste Größe im Qualitätsfernsehen, vereint in seinem Spiel realistischen Ausdruck und seelische Essenz, und er steht gern ein wenig neben seinen Figuren und gibt ihnen dadurch etwas Universales mit, eine Art philosophischen Subtext. Für den introvertierten Kühn, diesen dichten menschlichen Entwurf nach einer literarischen Vorlage, ist das optimal. „Loibl hat Tiefe und kann trotzdem ‚lustig‘ sein, ernsthaft lustig, ganz undeutsch, eher englisch, sophisticated eben“, hebt Regisseur Huettner die Qualitäten seines Hauptdarstellers hervor.

Kühn hat zu tunFoto: WDR / Bernd Schuller
Rechtsradikaler Mob – und sein Sohn (Cedric Linus Eich) mittendrin. Kühn (Thomas Loibl) rastet aus, gibt dem Rädelsführer eine Kopfnuss. Das Video ist ein Renner im Netz.

Der Job, das Private, die Jugend, alles stürmt auf Kühn ein – und die Bilder zeigen es
„Kühn hat zu tun“ ist kein klassischer Krimi. „Es ist ein Film über einen Menschen, der eben zufällig Kriminalkommissar ist“, bringt es Produzentin Viola Jäger auf den Punkt. Der Whodunit als dramaturgisches Spannungsprinzip ist hier noch weniger dominant als bei einem Krimidrama, bei dem der Ermittelnde durch den aufzuklärenden Fall persönlich in Mitleidenschaft gezogen wird. Es sind ja noch diese ganzen anderen Eindrücke, die auf diesen Mann wie ein gewaltiges Störfeuer hereinbrechen. Seine Vergangenheit türmt sich vor ihm auf. Diese blutüberströmten Erinnerungsfetzen, diese Ohrwürmer, dieser höllische Iron-Maiden-Song oder dieses fürchterliche „Cheri, Cheri Lady“. Aber auch das aktuelle Privatleben bringt Kühn an seine Grenzen: das Klappmesser im Zimmer seines Sohnes, der rechte Mob, der vor dem Gemüseladen eines vom Schicksal gebeutelten Griechen handfest Randale macht, oder die Nachbarin, die offenbar seine verdrängten sexuellen Gelüste weckt und in deren Gegenwart er besonders verunsichert scheint (erotischer Live-Chat? „Ich wünschte, ich hätte die Zeit dazu“). Alles, was der Film erzählt, wird nicht nur durch die Brille der Hauptfigur wahrgenommen, sondern es dringt gleichsam tief ins Bewusstsein dieses am Abgrund torkelnden Mannes ein. Aber auch Kuhns Seelenleben bricht sich Bahn: Er hört Stimmen und Musik, sieht Ströme von Blut. Diese sinnliche Durchlässigkeit, dieses Verschmelzen von inneren mit äußeren Reizen, haben Regisseur Ralf Huettner, Kameramann Armin Golisano und Cutter Benjamin Kaubisch sehr eindrucksvoll umgesetzt. Die Kamera häufig in Schräglage, sie wackelt und taumelt, und es ergeben sich Unschärfen. In den zunächst nur sehr kurz angerissenen Flashbacks, deren Aktionen im Verlauf des Films für den Zuschauer immer klarer zu erkennen sind, ist aber auch die Ton-Ebene von großer Bedeutung.

Kühn hat zu tunFoto: WDR / Bernd Schuller
Der schnittige neue Staatsanwalt Dr. Hans Globke (Trystan Pütter) kann mit Kühns Ermittlungsmethoden wenig bis nichts anfangen. „Ich schätze Sie, weil Sie aus demselben Bodensatz der Gesellschaft kommen, mit dem wir es meist zu tun haben.“

Ausgezeichneter 90-Minüter mit feiner Ironie-Schicht und aufregenden Nebenplots
Die 90 Filmminuten lassen die Qualität des Romans erahnen, auch wenn man die Vorlage nicht kennt. Und trotz der außergewöhnlichen Qualität dieser TV-Adaption schleicht sich unweigerlich der Eindruck ein, dass in diesem Stoff sogar mehr stecken könnte, als ein einzelner Fernsehfilm in der Lage ist zu erzählen. Alles auf Kühn zulaufen zu lassen, ihn auch filmisch zum Dreh- und Angelpunkt zu machen, ist für ein Einzelstück natürlich die absolut richtige Entscheidung von Drehbuchautor Einrauch und Regisseur Huettner: Die Erinnerungen der Titelfigur, ihre Halluzinationen, ihre Aussetzer sind der Schlüssel zur Geschichte. Andererseits wird aber auch das Interesse geweckt an den bizarren Nachbarn, an der ätzenden Langzeitwirkung des „Tausendjährigen Reichs“, an Familie Kühn, in der sicher noch so manches unter der Oberfläche brodelt, oder an  dieser so aufgeräumten Vorstadtsiedlung, in dem ein Haus dem anderen gleicht und die Huettner mit nur wenigen markanten Einstellungen erschreckend ins Bild rückt. „Kühn hat zu tun“ ist ohne Einschränkung als ein hervorragendes Fernsehfilmdrama, überzogen mit einer feinen Ironie-Schicht, zu feiern; vielleicht sogar auch als eine vorbildliche Literaturverfilmung (wie gesagt: ich kenne den Roman nicht). Ebenso gut schneidet der Film ab, vergleicht man ihn mit den öffentlich-rechtlichen ins Kraut schießenden Krimi-Dramen. Hat man sich im Kopf vom Genre frei gemacht, dann erschließt einem die Erzählperspektive völlig andere Welten. Überall wittert man aufregende B- und C-Plots.

Kühn hat zu tunFoto: WDR / Bernd Schuller
Spannendes und visuell ansprechendes Finale. Dazu meint Romancier Weiler: „Der Showdown spielt jetzt nicht mehr auf einer Nordseeinsel, sondern in den Bergen, am Walchensee-Kraftwerk. Sieht super aus. Hätte ich im Buch auch so machen sollen.“

„Das, was in Kühns Kopf vor sich geht, ist schwierig zu verfilmen. Wir haben versucht, Szenen so zu bauen, dass man als Zuschauer das Gefühl hat zu ahnen, was in seinem Kopf los ist. Oft beginnen solche Momente mit einem hohen Tinnitus-Ton oder mit einer kurzbrennweitigen Einstellung auf Kühn. Den Rest spielt dann Thomas Loibl. Wichtig war mir, dass es eine filmische Annäherung, eine Brücke zu seinen Visionen gibt.“ (Ralf Huettner, Regisseur)

Wie die Serien-Sehgewohnheiten auch die Einzelstück-Rezeption verändern könnten
Doch genau das ist in Zeiten horizontal und intelligent erzählter Drama-Serien ein möglicher Knackpunkt. Während man bei komplexen Serien manchmal (zu) lange warten muss auf ein Wiedersehen mit einer interessanten Figur, wartet man bei „Kühn hat zu tun“ vergeblich. Und so könnte sich am Ende des Films ein ähnliches Gefühl einstellen wie bei den meisten liebgewonnenen Drama-Serien: ein Gefühl des Unvollendeten. Bei amerikanischen Premium-Dramaserien gehört dieser Effekt zum Format. Bei der Weiler-Verfilmung kann er möglicherweise entstehen, weil die durch den Serienkonsum veränderten Sehgewohnheiten auch vor der Rezeption von Einzelstücken nicht halt machen. Dass man aber – auch wenn man es dramaturgisch „richtig“ macht – nicht unbedingt beim Zuschauer punkten muss, zeigte die TV-Fassung der Weiler-Verfilmung „Das Pubertier“ als sechsteilige Serie. Bei der hatte der Kritiker nicht den Eindruck, dass ihm etwas Wichtiges vorenthalten bliebe, die „konservativen“ ZDF-Zuschauer wollten sich aber gar nicht erst auf die Serie einlassen.

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Fernsehfilm

WDR

Mit Thomas Loibl, Dagmar Leesch, Ronald Kukulies, Trystan Pütter, Cedric Linus Eich, Marlene Labahn, Lisa Wagner, Robert Stadloober, Kim Riedle, Peter Wolf, Oliver Stokowski, Susanne Schäfer, Nicholas Reinke, Yolanda Schlagintweit, Katharina Schlothauer

Kamera: Armin Golisano

Szenenbild: Michael B. Koening

Kostüm: Theresia Wogh

Schnitt: Benjamin Kaubisch

Musik: Ralf Hildenbeutel, Steve-B Zett

Soundtrack: Jamiroquai („Cosmic Girl“), Johnny Nash („I Can See Clearly Now“)

Redaktion: Sophie Seitz

Produktionsfirma: Olga Film

Produktion: Viola Jäger

Drehbuch: Volker Einrauch – nach dem Roman von Jan Weiler

Regie: Ralf Huettner

Quote: 3,22 Mio. Zuschauer (10,2% MA)

EA: 30.01.2019 20:15 Uhr | ARD

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