Zwei Mädels komfortabel verheiratet, die dritte solo – und keine wirklich glücklich
Berlin 1959, die Schöllack-Töchter sind erwachsen geworden und immer häufiger unzufrieden mit ihrem Leben. Rock & Roll-Backfisch Monika (Sonja Gerhardt) entwickelt sich mehr und mehr zu einer ernsthaften jungen Frau, die auch weiterhin Spaß haben kann an ihrer Jugend und der Musik, obwohl sie mit einer schweren Last zu leben hat. Sie musste die über alles geliebte Tochter Dorli ihrer Schwester Helga (Maria Ehrich) und ihrem Schwager Wolfgang (August Wittgenstein) als Zieheltern überlassen. Das Kind rettet vorübergehend die Ehe der beiden, die angespannt ist, seit Wolfgangs Homosexualität ein offenes Geheimnis ist. Auch Eva (Emilia Schüle) hat mit ihrem Professor Fassbender (Heino Ferch), ein Ego-Rammler und Psychiater der alten arischen Schule, keinen befriedigenden Fang gemacht. Nicht einmal den Führerschein zu machen will er ihr erlauben. Monika dagegen ist solo. Sie liebt noch immer den melancholischen Fabrikantensohn Joachim Frank (Sabin Tambrea), doch den hat sich nach dem Tod von Frank senior dessen Sekretärin Ninette (Laura de Boer) gekrallt. Caterina Schöllack (Claudia Michelsen) indes geht es ungewöhnlich gut: zwei Töchter komfortabel unter die Haube gebracht, die dritte steht am vielversprechenden Beginn einer großen Karriere – und sie ist deren Managerin und hat sogar selbst einen Fuß im Bett eines „Spielleiters“. Eine TV-Show bescherte Nicky alias Monika und Freund Freddy (Trystan Pütter) einen großen Schlager-Hit. Und der Regisseur der Sendung, der ehemalige Durchhaltefilm-Regisseur Kurt Moser (Ulrich Noethen), hält große Stücke auf die beiden. „Das neue Gesicht des deutschen Films“, orakelt nicht ganz uneigennützig dieser selbstherrliche Österreicher. Er ist Mutter Catarinas großer Schwarm, ein Knödelfetischist und gnadenloser Frauensammler.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Schweres und Leichtes werden zeitkritisch & unterhaltsam miteinander verwoben
Die Geschichte von „Ku’damm 59“ schließt nahtlos an den erfolgreichen Dreiteiler „Ku’damm 56“ an. 1957, die Mutter zeigt sich von ihrer eiskalten Seite, die hochschwangere Heldin erleidet daraufhin eine Frühgeburt, fällt ins Kindbettfieber und ist die Vormundschaft ihrer Tochter erst einmal los. Der überaus dramatische Einstieg wird nach zehn Filmminuten mit einem Sprung ins popmusikalische Jahr 1959 überwunden: „Dream Lover“ – der wilde Rock hat ausgerollt und wird familientauglich. Jetzt hat auch Mutti wieder das Sagen, als Monikas Managerin. Deutschland swingt nach dem Fernsehauftritt im „Rock & Roll Fever“, der allerdings eher ein Schlagerfieber ist. Und dazu agiert passend launig Ulrich Noethen als selbstgefälliger Austria-Charmebolzen der Altväter-Art. Diese unterhaltsamen Szenen mit Witz & Musik werden unterbrochen von den Problem-Subplots der Geschichte: von den unglücklichen Ehen der Schöllack-Frauen und von der tragischen Mollton-Szenerie beim Wiedersehen des kruppstahlharten Unternehmervaters, der in seiner Demenz noch immer an den Endsieg glaubt, und Joachim, dem vermeintlich schwarzen Schaf der Familie Frank … Die Erzählstrategie ist einfach, ihre Ausführung nahezu perfekt und die Wirkung entsprechend packend: Schweres und Leichtes werden in einer Art miteinander verwoben, die den Zuschauer nie aus der Geschichte katapultiert. Andererseits sind diese unterhaltsamen Szenen nie nur Zuckerwatte oder reines Augenpulver, sondern sie spiegeln auch ein Stück weit die Domestizierung der Jugendkultur durch die Erwachsenen, und sie zeigen, wie die heile Schlager- und Heimatfilmwelt die für die 50er Jahre so typische Verdrängung möglich macht. So versteckt der nach außen stets fröhliche Freddy seine KZ-Erlebnisse hinter seinem Lausbubenlächeln. Doch dieses Trauma lässt sich nicht wegwitzeln oder schön s(w)ingen.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
„Auch in ‚Ku’damm 59‘ liegt der Fokus auf der besonderen Stellung der Frauen, denen es damals schwer möglich war, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Uneheliche Kinder, alleinerziehende Mütter, sexuelle Bedürfnisse von Frauen waren gesellschaftliche Tabuthemen. Belästigung, körperliche Übergriffe von Vorgesetzten und Vergewaltigung in der Ehe wurden dagegen stillschweigend toleriert. Frauen durften ohne Zustimmung ihres Ehemanns keine Wohnung anmieten, keine Arbeitsstelle antreten. Sie hatten sich dem Willen des Mannes unterzuordnen.“ (Annette Hess, Drehbuchautorin)
Mehr als ein Sittenbild einer bleiernen Epoche – und die 60er Jahre warten schon
Wie beim Vorgänger so nähert sich Drehbuchautorin Annette Hess („Weißensee“) auch in „Ku’damm 59“ bewusst, lebensklug und sehr umsichtig dem Phänomen Zeit. Da sind die 50er Jahre als die historische Ära des legendären Wirtschaftswunders, in der die gesellschaftlichen Zwänge in Gestalt der Männer das Sagen haben, aber auch als gelebte & erlebte Zeit, als Individualität, Eigenwille und die Selbstbestimmung der Frau noch nichts gelten in beiden Teilen Deutschlands. Der ZDF-Mehrteiler ist aber mehr als eine realistisches Sittenbild einer bleiernen Epoche. Ohne die Vergangenheit lässt sich die Gegenwart nicht verstehen, und ohne eine Aussicht auf die Zukunft würde einer Geschichte über das Jahr 1959 der höhere Sinn fehlen. Lag über „Ku’damm 56“ der Mehltau der nationalsozialistischen Geschichte und der Ruch des ewig Gestrigen, so wird nun jene Monika stärker als bisher zur Vorreiterin einer neuen, frei(geistig)eren Zeit. Nicht umsonst heißt ihre Band „The Sixties“. Irgendwann erkennt Monika, dass sie das Ideal des 50er-Jahre-Twens nicht länger bedienen will, schon gar nicht als Vorbild für ein Massenpublikum. Sie emanzipiert sich ein zweites Mal von ihrer Mutter. Jetzt aber nicht mehr mit jugendlichem Leichtsinn, sondern mit der Überzeugung einer gereiften jungen Frau. Sehr passend von Hess ausgedacht: Monika bricht auch musikalisch aus dem Mainstream aus, kehrt dem verlogenen Heimatfilm den Rücken, verabschiedet sich vom Schlagerpop, entdeckt den Rhythm & Blues für sich, der tatsächlich in den frühen 60er Jahren durchstartete (passend auch die von Freddy favorisierte Musik, die vom Mambo geprägt ist) und ihr mehr emotionale Tiefe und Selbstausdruck ermöglicht. Das Subjekt katapultiert sich aus der Zwangsjacke seiner Zeit. Die Heldin ist erwachsen geworden. Und das Schlussbild lässt sich sogar augenzwinkernd als ein Hinweis auf die sexuelle Befreiung zehn Jahre später lesen: eine Frau mit zwei Männern in einem Bett, und alle drei sind überglücklich.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
„Geschlechtergeschichten“ der Fünfziger mit dem Bewusstein von heute geschrieben
Mögen die Charaktere auch in ihrer Zeit verhaftet sein und sehen wir uns in der Handlung deutlich mit dem Moralkodex und einer aufbegehrenden Minderheit konfrontiert – so zielt doch der Subtext des Films deutlich in die heutige Zeit. Autorin Hess hat ihre „Geschlechter-Geschichten“ aus der Warte von heute entwickelt. Besonders bei den Dialogen klingt das mitunter etwas zu explizit oder auch mal didaktisch („kein Interesse an Frauenfiguren, die selbstständig denken können“), selbstfindungspsychologisch („Ich habe bisher völlig unter meinen emotionalen Möglichkeiten gelebt“), neuzeitlich provokativ („die Bedeutungslosigkeit des weiblichen Orgasmus’ für die Evolution“) und selbst hinter einer Sprachschöpfung wie „multipler Ehebruch“ steckt eine sexuelle Konnotation der Nach-68er-Zeit. Andererseits ist es verständlich, dass Hess Macho-Attituden (Moser: „Ich seh’ deine Augen. Ihr sagt’s nein, aber Ihr meint ja“), patriarchalischem Sadismus (Fassbender: „Du tust jetzt einfach, was ich dir sage, mein Kind, du weißt, ich habe Mittel, dich zu zwingen“), gängiger Erziehungspraxis (Wolfgang: Schläge – „die haben noch keinem geschadet“) und weiblicher Unterwürfigkeit (Catarina: „Dir Frau hat sich dem Ehemann unterzuordnen; alles andere ist gegen die Natur“) etwas entgegenzusetzen versucht. Und Utopie darf durchaus sein in einem zeitgeschichtlichen Film über ein rückständiges Jahrzehnt, in dem Autofahren das Höchstmaß an weiblicher Selbstbestimmung bedeutet. Beispielsweise der Traum von einem Haus, in dem alle Leben, die Familie, die Freunde, selbst die Frau Mama, ein Haus, das aus Musik gebaut ist – für 1959 überaus weitsichtig! Gelungener als die (wenigen) überdeutlichen Dialoge sind insgesamt sowieso die Situationen und Bilder. Eben jene Emanzipation am Steuer beispielsweise. Oder „Püppchen“ Eva, das den lieblosen Beischlaf des Gatten über sich ergehen lässt in einem Schrank(klapp)bett en miniature, bei dem man an ein Puppenhaus (Ibsen lässt grüßen!) denken muss. Apropos Haus: Das schwere Erbe, das Joachim Frank mit der Waffenfabrik seines Vaters antreten muss, findet seine sinnliche Entsprechung in der monströsen, düsteren Villa, die wie ein Sarg wirkt und die ihre Bewohner geradezu lebendig zu begraben scheint.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Kinder ihrer Zeit & der Umstände: Männer wie Frauen – gebrochen sind sie alle
Auch psychologisch ist das gut überschaubare Personal von „Ku’damm 59“ stimmig konfiguriert. So ätzend auch das Verhalten – besonders in „Ku’damm 56“ – von Catarina Schöllack: Die Töchter haben einiges „vererbt“ bekommen von der rigiden Hausherrin. Die besten Eigenschaften und Talente hat Monika erwischt: Muttis Tanzbegabung und ihr Organisationstalent. Dass sie das ideale Gegenbild zu der reaktionären Zeit verkörpert, was sie zum „besten Menschen der Welt“ macht, das ist ihrer Mutter geschuldet: So wie sie will Monika nie werden. Helga ist ihrer Mutter am nächsten. Auch sie hält auf gesellschaftliche Konventionen und geht über Leichen, um ihre (klein)bürgerlichen Ideale durchzusetzen. Und Eva durchläuft zwar die extremste, „unmoralischste“ Entwicklung von den drei Schwestern, dennoch ist sie in einem Punkt bald ähnlich wie die gestrenge Frau Mama: Das vom Ehemann klein gehaltene Schönchen entdeckt durch Zufall ihre Wirkung auf Männer und begibt sich auf Rosemarie Nitribitts Spuren. Eva genießt das Gefühl der Macht, sie kommandiert die Männer herum, verkörpert die süße Domina. Und die Herren der Schöpfung? „Alle Männer sind Schweine“, bricht es am Ende des zweiten Teils aus Hausfrau Helga heraus. Da gibt es den Typus ewiger Junge (Freddy), allerdings aus gutem Grunde, den honorigen Sadisten (Fass-bender), den bräunlichen Egomanen (Moser), da gibt es zwei Schwule, der eine liebenswert (Liebknecht), der andere langsam auf dem Weg dorthin (Wolfgang). Und dann ist da noch der Spross aus reichem Haus (Joachim), hypersensibel, mit dem existentialistischen Hang, unglücklich zu sein, ein junger Mann, der langsam seinen Weg findet. Gebrochen sind sie alle, Männer wie Frauen. Und sie sind nicht bloß ausgedacht, um die Geschichte(n) am Laufen zu halten. Sie sind Kinder ihrer Zeit, der Umstände, was ihr Handeln aber nur bedingt entschuldigt. Wolfgang sagt es einmal Helga ins Gesicht: „Du hast den Antisemitismus, glaube ich, mit der Muttermilch aufgesogen.“ Allein Monika schwebt als Engel über allen, und Joachim lässt sich mehr und mehr auf ihre helle Seite ziehen. Die anderen schwanken und je nach Situation schließt der Zuschauer Koalitionen, mal mit dem einen, mal dem anderen. Ferchs Fassbender dürfte die wenigsten Sympathien bekommen. Auch Maria Ehrichs spießige Helga ist ein egoistisches Miststück. Dagegen macht Catarina, nachdem sie emotional ganz unten war, im Verlauf der Handlung zunehmend von ihrer Mutterliebe Gebrauch.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
„Bei der Umsetzung haben mich vor allem die Gegensätze gereizt. Es ging darum, individuelle, persönliche Schicksale einerseits unterhaltsam und mitreißend, andererseits auch brutal und ungeschönt zu schildern. Die richtige Balance zwischen Überhöhung und Realismus zu finden. Diese Reibung zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, der Überspitzung und dem Understatement, der glatten Oberfläche und dem Tumult darunter, machen für mich die erzählerische Kraft von ‚Ku‘damm 59‘ aus.“ (Sven Bohse, Regisseur)
Dieser nahezu perfekte Mehrteiler wäre als zehnteilige Serie sicherlich noch besser
Im Zeitalter von internationalen Ausnahme-Serien, die sich in die bisher „unerhörten“ Mikrokosmen einer Zeit oder eines Milieus vorwagen (von „Mad Men“ bis „Masters of Sex“, von „The Knick“ bis „Halt and Catch Fire“) und damit für eine thematische Bereicherung, ja für die Entdeckung eines Themas durch die Fiktion sorgen, ist es durchaus legitim, sich zu fragen, wo im Vergleich ein Mehrteiler wie „Ku’damm 59“ steht, worin seine Qualität liegt und worin ein mögliches Manko bestehen könnte. Der Stoff hätte selbstredend das Zeug für eine zehnteilige Serie. Der ausgezeichnete ZDF-Mehrteiler ist ein clever gemachter Bilderbogen, eine individualisierte und emotionalisierte Chronik der späten 50er Jahre. Die Geschichten werden angeschnitten, angetuscht, aber nicht farbig ausgemalt. Die Aktionen, das Physische wird nur angedeutet (das passt trotz jugendlichem Hüftschwung zu den körperlosen Deutschen in jenen Jahren), die Montage ist neben der Ausstattung das Herzstück der Gewerke, der Erzählfluss der Herzschlag des Films. Hätte man die doppelte Spielzeit, hätte man allen Figuren, über ihre bloße dramaturgische Funktion hinaus, echtes Leben einhauchen und ihnen eine komplexere Biographie/Psychologie geben können. Ein viereinhalbstündiger Mehrteiler aber kann nur die historischen Problemfelder andeuten, kann Metaphern suchen, um das Erzählte in die unrühmliche Vergangenheit und die aufregende Zukunft ausstrahlen zu lassen, kann in Umgangsstil, Look & Design eine Zeit auferstehen lassen, kann das soziale Große mit dem narrativen Kleinen, das gesellschaftliche Über-Ich mit dem gelebten Alltag kurzschließen und kann alles in eine geschmeidige, elegante Form bringen. „Ku’damm 59“ macht genau das – vorbildlich. Das Ergebnis: ein hochsinnliches, nahezu perfekt erzähltes, spannendes und thematisch dichtes Best of the late Fifties. (Text-Stand: 28.2.2018)