Für die Schöllack-Töchter gibt es nur einen Weg nach oben
Etikette ist alles. Caterina Schöllack (Claudia Michelsen) führt in ihrer Berliner Tanzschule und auch zuhause ein strenges Regiment. Nicht nur die konservativen Standardtänze, auch die Anstandsregeln für Mann und Frau will sie ihrer Kundschaft antrainieren. Ihr privates Anliegen ist es, ihre drei Töchter komfortabel unter die Haube zu bringen. Sie weiß aus eigener Erfahrung: „Es gibt nur einen Weg nach oben.“ Bei Helga (Maria Ehrich) läuten bereits die Hochzeitsglocken. Auch Eva (Emilia Schüle), Krankenschwester in der Psychiatrie, hat schon einen Ernährer am Haken, ihren Chef (Heino Ferch), eine Art Ersatzvater – denn Gerd Schöllack wird seit Kriegsende vermisst. Die dritte unter Muttis Fuchtel ist Monika (Sonja Gerhardt), ein hoffnungsloser Fall: von der Hauswirtschaftsschule geflogen, verunsichert, suizidgefährdet und bald Opfer einer Vergewaltigung, ausgerechnet von einem der Kavaliere aus Mutters Benimmkurs, Joachim Franck (Sabin Tambrea). Der Fanrikantensohn wäre eine gute Partie. „Deine letzte Chance“, beschwört Caterina Schöllack ihre Tochter. „Es gibt auch Frauen, die nicht heiraten“, weiß Monika. „Ja, es gibt auch Ziegen mit zwei Köpfen.“
Soundtrack (Teil 1): Hans Georg Schütz (Glutrote Rosen“), Erich Schneidewind (Wiener Pastell“), Luna Trio („That’s amore“ / „Steig in das Traumboot der Liebe“ / „Rock Around The Clock“ / „Herz-Schmerz-Polka“ / „Wer wird denn weinen…“ / „Es liegt was in der Luft“ / „Du hast ja Tränen in den Augen“), Barnabas von Geczy („Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“), Max Greger („Warum müssen Jahre vergehen“ / „Zwei in einer großen Stadt“); Tommy Dorsey („Liebestraum“)
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Frauenbilder zwischen Doppelmoral, Küche und Tanzboden
Der ZDF-Dreiteiler „Ku’damm 56“ nimmt den Zuschauer mit in die 1950er Jahre. Es ist eine Zeitreise in ein prüdes Jahrzehnt der gesellschaftlichen Zwänge und der vorgestrigen Gesetze, die das Leben der Geschlechter einseitig bestimmen: „Die Frau schmücke dem Manne seinen schwierigen Alltag, wo sie nur kann“, ist eine der Regeln aus Schöllacks Benimmkurs. Der gesellschaftliche Druck ist groß, Individualität ein Fremdwort. Aber langsam tut sich was, auch in Deutschland. Die Initialzündung gibt der Rock’n’Roll. Hauptfigur Monika, die in Teil 1 noch still in sich hinein leidet, findet im wilden Rhythmus dieser Musik eine Sprache, um ihre Bedürfnisse und Gefühle auszudrücken. Beim Tanzen befreit sie sich, entdeckt ihren Körper. Jetzt ist er nicht mehr nur Ort des Schmerzes, ist mehr als ein „Nistplatz“, als jene „Röhre“ für einen „Braten“, wie die Schwangerschaft in jenen Jahren wenig liebevoll umschrieben wurde. Die Heldin entdeckt den Körper als Quelle der Freude und Lust – und entwickelt daraus ein Selbstbewusstsein, das ihr auch das strenge Familienoberhaupt als Hüterin der konservativen Werte nicht mehr nehmen kann. Monikas Mutter und ihre zwei Schwestern hingegen verkörpern andere Frauenbilder der Zeit: Caterina ist eine verhärmte Frau, die mit Disziplin und Doppelmoral, mit Nikotin, „Frauengold“ und einer geheimen Affäre den Alltag meistert. „Was sollen denn die Leute denken?!“, diesen Satz, Antrieb all ihres Tuns, haben ihre beiden Ältesten auch schon völlig verinnerlicht. Die eine liebt einen Mann, der zwar Karriere, sie aber nicht emotional glücklich macht. Die andere muss sich zwischen einem „Sugar Daddy“ und einem attraktiven, verheirateten „Ostdeutschen“ entscheiden.
„Die 50er Jahre haben mich schon immer fasziniert. Einmal ist es die Zeit, in der meine Eltern jung waren. Zum Zweiten sind diese Jahre geprägt von einer ungeheuren Gegensätzlichkeit. Der gewaltige Aufbruch kämpft mit einer ebenso gewaltigen Geschichte. Die Verdrängung, das zwanghafte Heraufbeschwören einer heilen Welt, zelebriert in den Filmen, Schlagern und der Mode dieser Zeit, stehen in krassem Widerspruch zu der so nahen, verheerenden Vergangenheit. Und aus Widersprüchen entstehen Konflikte – und Geschichten.“ (Annette Hess)
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Backpfeifen für die Backfische, braune Flecken auf weißen Westen
Politik, Zeitgeist und die deutsche Geschichte prägen die Schöllacks. Die Narben des Krieges sind überall noch spürbar – und ganz so etepetete wie heute war Mutter Caterina in den 1930er Jahren nicht immer. Hat ihr Ehemann vielleicht auch deshalb die Stunde Null für seinen persönlichen Neuanfang im Ostteil der Stadt genutzt? Die weiße Weste der Familie hat jedenfalls braune Flecken, ebenso wie die von Fritz Assmann, dem Mann, mit dem die feine Dame des Hauses seit Jahren eine Affäre hat. Die Älteren bringen sich und damit etwas von der deutschen Historie in die Geschichte des Films ein: So auch der Rüstungsunternehmer Franck, der offenbar in Burma das weiter betreibt, was er im Nationalsozialismus mit Zwangsarbeitern erfolgreich erprobt hatte. Oder der Psychiater und Bräutigam in spe, der an Menschenversuchen in Konzentrationslagern als Assistent beteiligt war. Dessen Elektroschocktherapie, die er heute seinen Patienten verabreicht, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck von den Methoden jener Jahre. Aber auch im Alltag sind Schmerz, Bestrafung und Strenge die Erziehungsmethoden der Zeit. Es setzt Backpfeifen, es fallen Sätze wie „Du bist zu gar nichts zu gebrauchen“ und selbst Lob enthält noch die entsprechenden Zwischentöne: „Das ist die erste gute Nachricht, die ich je von dir gehört habe“, sagt die Mutter zu Monika und sieht dabei tatsächlich glücklich aus. Es ist das Nebeneinander von Großem und Kleinem, dem Horizont der Zeit und dem gelebten Alltag, das den besonderen Reiz von „Ku’damm 56“ ausmacht. Geschichte wird erlebt. Die Politik und das Gesellschaftliche gehen in die Familiengeschichte ein, ohne Ausrufezeichen. Es ist ein harmonisches Zusammenspiel, das Drehbuchautorin Annette Hess bereits in der preisgekrönten Serie „Weißensee“ ähnlich perfekt gelungen ist. Da gehört das Verbot der KPD, die Strafbarkeit von Homosexualität oder das Gesetz, das Frauen zu arbeiten verbietet, wenn ihre Ehemänner Einwände dagegen haben, genauso dazu wie das Baderitual, bei dem mit nur einer Wannenfüllung die ganze Familie „gesäubert“ wurde, die ständige Umsorgung des Gatten oder das verinnerlichte schlechte Gewissen der in ihren eigenen Augen nicht perfekten Hausfrau („Der Braten war zu hart“).
Soundtrack (Teil 2): Kurt Edelhagen („Happy Days Are Here Again“ / „Diana“), Luna Trio („Du hast so wunderschöne Augen“ / „In Hamburg sind die Nächte lang“), Ray Anthony („I don’t know why“), Tommy Dorsey („Imagination“), Glenn Miller („My Prayer“ / „Moonlight Serenade“ / „Stardust“) / Chuck Berry („Too Much Monkey Business“), Little Richard („Long Tall Sally“ / „Tutti Frutti“), Carl Perkins („Blue Suede Shoes“), R&R-Kapelle („Rip It Up“ / „Ooby Dooby“)
Foto: ZDF / Stefan Erhard
„Neben der inhaltlichen Recherche ging es mir vor allem darum, ein Gefühl für die Atmosphäre und die Ästhetik dieser Zeit zu bekommen. Ich habe versucht, das Lebensgefühl der Menschen damals zu verstehen, um es richtig wiedergeben zu können. Mit dem Kameramann Michael Schreitel habe ich früh begonnen, eine visuelle Sprache für die Umsetzung der Geschichte zu entwickeln. Besonders beeinflusst haben uns dabei die Malerei von Edward Hopper und die Fotografien von Gregory Crewdson. Beide stellen die Einsamkeit des Individuums in einer morbiden, urbanen Bürgerlichkeit dar – Menschen, die von etwas träumen, aber unfähig sind, zu handeln.“ (Regisseur Sven Bohse)
Abbilden und Stilisieren – und die Schauspieler fügen sich ins Bild
Die Phänomene der Zeit werden vor allem gezeigt: Der Film atmet bis ins letzte Bild die 1950er Jahre. Die Totalen vom Ku’damm geben ein naturalistisches Stimmungsbild, und die im Studio gebauten Räume der Tanzschule bringen einem den typischen Flair der Nierentisch-Ära und Schlagerschnulzenzeit sehr viel näher als die in der Regel schlechter ausgestatteten zeitgenössischen Kinofilme jenes Jahrzehnts. Regisseur Sven Bohse sowie Szenenbildner Lars Lange, Kostümbildnerin Maria Schicker und Kameramann Michael Schreitel bilden aber nicht nur die ästhetischen Trends der Zeit, die Kleidermode und das markante Fifties-Design, stimmig ab, sondern überhöhen und stilisieren ganz im Look der Zeit. Und die Schauspieler machen mit: Maria Ehrich als unglücklich verheiratete Ehefrau sieht bereits – bevor sie ein Reklameregisseur als Idealbild der deutschen Hausfrau entdeckt – schon so aus, als sei sie einem Hausfrauen-Werbespot entsprungen. Wie sie vor dem Herd kniend den Braten in den Ofen schiebt oder wie sie mit der Kochwäsche kämpft – solche Bilder kennt man aus der Reklame jener Jahre. Oder Claudia Michelsen als vermeintlich sittsame Familien- und Tanzschulenmanagerin – Maske und Mimik nicht ohne Grund mit gelegentlichen Anflügen ins Ordinäre. Auch der französische Existentialismus bekommt mit Sabin Tambreas Joachim Franck einen charismatischen Berliner Vertreter, der sich allerdings auch viel von Hollywoods jungen Wilden abgeguckt hat: Die Hölle, das ist der Vater! Verehrt und imitiert dieser den tödlich verunglückten James Dean, ist Freddy Donath, Monikas Rock’n’-Roll-Partner für Leibesübungen jeder Art, der als einziger seiner Familie das KZ überlebt hat, glühender Elvis-Fan. Trystan Pütter verkörpert ihn als swingenden Luftikus, frech und verspielt, das genaue Gegen-Bild zu Tambreas vergrübeltem Intellektuellen. Treffend besetzt ist auch Emilia Schüle als berechnendes Hübschen. Und Sonja Gerhardt, die eine zeitlang mit ihren Rollen und in ihrem Image fest hing, überzeugt mit dem Mut zur Biederkeit und in ihrem leisen, introvertierten Spiel: die Reinheit ihrer Heldin, deren Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, ist der Gegenentwurf zu all den Lügen und Geheimnissen der Anderen.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Die Ikonografie der Fünfziger: Gesellschaft im Pop-Diskurs
Beim Rock’n’Roll ist es die Form – sprich: der harte 4/4-Beat-Takt mit kräftiger Basslinie, die zum Tanzen animiert – und nicht die Songtexte, die das Wesentliche, das Revolutionäre, dieser neuen Musik ausmachen. Ähnlich steckt auch in den Bildern, in der Fifties-Ikonografie, der fast 300 Minuten „Ku’damm 56“ eine Menge „Bedeutung“, gelegentlich sogar unabhängig von der Handlung. Die 1950er Jahre besaßen eine Zeichensprache, die mittlerweile längst zum ästhetischen Allgemeinwissen gehört und die die Regie und die Gewerke nutzen, um einen dichten Populärkultur- und Zeitgeist-Diskurs zu entwickeln, den bisher keine deutsche Fernsehproduktion fotografisch und filmisch so präzise zu etablieren vermochte. Dazu gehört auch die Filmsprache des Kinos jener Jahre, die Regisseur Bohse und Kameramann Schreitel sinnlich und sinnhaft zu nutzen wissen. Douglas-Sirk-verdächtig erzählen auch die Bilder: Besonders gelungen sind die Einstellungen vom Ehe-Gefängnis mit seinen Gittern, Fenster-Verstrebungen und kühlen Spiegelungen auf Glas, oder die Stillleben der Fifties-Architektur, das Treppenhaus der Tanzschule „Elegant“, die das Kühle, die berechnende Sachlichkeit antizipiert, die das Leben – der Schöllacks – in den pragmatischen Fünfzigern bestimmt.
Soundtrack (Teil 3): Max Greger („Kauf dir einen bunten Luftballon“ / „Das war in Schöneberg“), Little Richard („Ready Teddy“ / „Rip It Up“), Kurt Edelhagen („Korridor Swing“), Juliette Greco („La Belle Vie“), Chuck Berry („Roll Over Beethoven“), Lucienne Boyer („Parlez-moi d’amour“), Guy Lombardo („Blue Mirage“), R&R-Kapelle („Der Mann am Klavier“ / „See you later, Alligator“)
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Straffe Dramaturgie – und was uns die drei Teile alles erzählen
Der im Detail dicht strukturierte Dreiteiler erzählt chronologisch, die Dramaturgie ist nicht kompliziert und die Geschichte wirkt nie zu komplex, sie konzentriert sich ganz auf die vier Frauen, besonders im Fokus steht Monika. Hess verzettelt sich nicht in Nebenhandlungen. In Teil 1 werden die vier Schöllacks und ihr Umfeld vorgestellt und der Lebensentwurf der Mutter und ihrer ältesten Töchter wird nur vorsichtig konfrontiert mit dem Lebensgefühl der weniger angepassten Jugend. Monika ist noch auf der Suche, lässt sich klein machen und nimmt ein Küchenmesser mit zum zweiten Date. Man ahnt als Zuschauer, woran der werte Gatte der ältesten Schöllack-Tochter „leidet“ und dass die Domina im mittlerweile nur noch Dreimäderlhaus auch so ihre Geheimnisse hat und es vielleicht auch gute Gründe gibt für ihre Biestigkeit. In Teil 2 nimmt die Geschichte ihren Lauf: Die Heldin beginnt, sich langsam zu emanzipieren, der Vater kommt ins Spiel und der Konflikt zwischen Mutter und Tochter eskaliert, versinnbildlicht in der Haltung der beiden zum Rock’n’Roll. Caterinas Fassade bröckelt. Im dritten Teil schließlich sitzt sie auf den Trümmern ihrer Existenz, während die Töchter ihre eigenen Lebenswege gehen. Die klar gezeichneten Charaktere und ihre neugierig machenden Erfahrungen sorgen – ähnlich wie in „Weißensee“ (insbesondere Staffel 3) – dafür, dass vom Betrachter problemlos zwischen den Handlungssträngen gesprungen werden kann; der Erzählfluss ist bestens getimt, man ist rasch im Bilde, es gibt keine Irritationen und keiner der Hauptfiguren taucht zu lange ab. Aus dem hässlichen Entlein wird ein sinnlicher Barockengel, aus dem Unternehmersohn ein armer Poet, aus der Gesellschaftsdame eine vereinsamte „alte“ Frau. Alle Wandlungen orientieren sich konsequent an den Charakteren, anstatt an dramaturgischen (Hollywood-)Mustern. Der Dreiteiler, der selbstredend nach einer Fortsetzung schreit, besitzt die richtige Dosierung aus Realismus und Utopie: „Ku’damm 56“ spiegelt die 1950er Jahre und gibt zugleich einen Ausblick auf jene Emanzipationsbewegung, die frühestens zehn, fünfzehn Jahre später Wirklichkeit wird. (Text-Stand: 10.3.2016)