Sommer 1989. Der 24jährige Student Ed (Jonathan Berlin) aus Halle, den der Tod seiner Freundin in eine tiefe Sinnkrise gestürzt hat, flüchtet nach Hiddensee. Dort trifft er auf Kruso (Albrecht Schuch), einen charismatischen jungen Mann, der den naiven Neuankömmling gleich in der ersten Nacht vor den NVA-Soldaten beschützen muss. Denn die Insel ist Grenzgebiet. Wer sich nachts am Strand aufhält, wird wegen Verdachts auf Republikflucht verhaftet. Ed erhofft sich offenbar von Kruso Hilfe, um nach Dänemark rüberzumachen, doch stattdessen landet er in dem unkonventionellen Ausflugslokal „Zum Klausner“ als Saisonkraft. Er begegnet dort einer Belegschaft, die sich als wilde, verschworene Gemeinschaft begreift und die Aussteigern aus der DDR-Gesellschaft (wieder) auf die Beine zu helfen versucht. Ihr attraktiver Antreiber ist jener Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, Deutschrusse, am Tag einfacher Tellerwäscher, doch am Abend der Hoffnungsträger für all die Gestrandeten, die er und seine Crew vor den Grenzpatrouillen retten. Seine Mission ist es, den Republikflucht-Willigen und Systemüberdrüssigen seine Idee einer inneren Freiheit nahezubringen und sie so vor dem Tod in der Ostsee zu bewahren. Mit „Nahrung für den Geist“, mit Kafka und Grass, Suppe und Solidarität, Rausch und Ritualen, stellt er ihnen eine Bewusstseinsveränderung in Aussicht, eine Art Reinigung und Befreiung von innen. Doch als andere Grenzen ein greifbareres, weniger utopisches Freiheitsgefühl in Aussicht stellen, lichten sich die Reihen. Aus der schützenden Arche wird ein sinkendes Schiff. Allein Ed steht Kruso noch bei.
„Für mich – aus dem Westen stammend – ist ‚Kruso‘ eine faszinierende Introspektion in die Welt einer oppositionellen Jugendkultur, derer ich mir in dieser Intensität nicht bewusst war.“ (Nico Hofmann, Produzent)
Der Fernsehfilm „Kruso“ ist entstanden nach dem gleichnamigen preisgekrönten Roman von Lutz Seiler, der im Sommer 1989 selbst als Abwäscher im legendären Ausflugslokal „Zum Klausner“ gearbeitet hat. Der Rahmen dieser Geschichte ist also durchaus der Wirklichkeit abgelauscht. Auch war Hiddensee zu DDR-Zeiten tatsächlich so etwas wie eine Aussteiger-Insel, ein „Sehnsuchtsort der Freiheit“ für intellektuelle Außenseiter, für Künstler und Wissenschaftler, für alle die, die mit dem Staat abgeschlossen hatten. Zu dieser Realität gehört selbstredend auch, dass die Systemkritiker und Fluchtwilligen hier zwar ihrer eigenen „Freiheit“ näherkamen, dass sie allerdings auch ständig unter Beobachtung standen. Im Film führt das zu bizarren Szenen: Während sich Saisonarbeiter und Aussteiger hippieesken Spaß- und Saufgelagen am Strand hingeben, stehen Stasi und wachsame NVA-Soldaten unweit in Habachtstellung. Die Grenzen der Krusoschen Freiheitsutopie, eine Art „innere Emigration“, sind in die Filmbilder eingeschrieben, ohne dass dem politischen Machtapparat in der Geschichte allzu viel Platz eingeräumt würde. Mit dem Niedergang des politischen Systems, der durch die Ereignisse an der ungarisch-österreichischen Grenze oder in der Prager Botschaft beschleunigt wird, nimmt die Bedeutung Hiddensees als Enklave der DDR-Kritiker ab. Und die zentrale Prämisse Krusos – „Freiheit ist in dir, sonst nirgends, und irgendwann übersteigt die Freiheit in unserem Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse“ – verliert ihre Logik. Mit dem Zusammenbruch der DDR, stirbt Krusos Utopie. Woraufhin der Titelheld – immer schon etwas neben der Spur – noch deutlicher dem Wahn verfällt.
Mit seinen 500 Seiten, der leisen Erzählweise, der nicht immer leicht zugänglichen Sprache, dieser märchenhaft-magischen Anmutung, einem Realismus mit Hang zur Parabel, mit der intimen Handlung, den zahlreichen Verweisen auf die Literaturgeschichte („Robinson Crusoe“, Rimbaud, „Die Leiden des jungen W.“) und dem Fehlen eingängiger dramatischer Strukturen, wie sie der aktuelle Fernsehfilm immer stärker zu bedienen hat, ist „Kruso“, 2014 erschienen, ein Roman, der formal erst einmal nicht nach einer Verfilmung schreit. Das, wovon das Buch (und jetzt auch der Film) erzählt, ist umso reizvoller und für viele Westdeutsche überraschend, weil es aus einer vermeintlichen Fußnote der Geschichte einen geradezu politphilosophischen Diskurs entwickelt, weil es zeigt, dass es nicht nur D-Mark-geile „Bananen“-Aufständler in der DDR gab und weil Lutz Seiler damit – ähnlich wie Uwe Tellheim in „Der Turm“ – ein würdevolleres Bild von der DDR vermittelt als die vielen nur emotionalen „Wir-sind-das-Volk“-Dramen, die sich vornehmlich an der Stasi-Vergangenheit abarbeiten. „Es geht nicht um eine platte, historische Abfolge des Untergangs“, so Regisseur Thomas Stuber, Experte für Aussteigergeschichten („Herbert“ / „In den Gängen“), „sondern um eine feinfühlige und zugleich total überhöhte Geschichte.“ Entsprechend setzt Stuber auf einen poetischen Realismus, der den Mangel an einer stringent erzählten Spannungsgeschichte mit atmosphärischen Konnotationsfeldern und zahlreichen hochsinnlichen Situationen ausgleicht. So glaubt man anfangs in der Freundschaft der jungen Männer einen homoerotischen Anstrich zu erkennen, wenn die beiden im Dampf der Abwaschkessel und dürftig bekleidet („am besten du ziehst alles aus“) nebeneinander ihren Dienst tun. Oder wenn Kruso den Novizen mit schützender Hautpaste die Hände einschmiert oder er eine innige Umarmung mit sehnsuchtsvollen Worten („Ich wollte, dass du kommst“) kurzschließt. Sinnlich sind auch die Rituale der Klausner-Mannschaft in Szene gesetzt. Und kommt Gewalt ins Spiel, kriegen diese Szenen – gemessen am ruhigen Erzählfluss – eine hohe Intensität.
„Das Meer als Grenze und Ort des Sterbens waren im Roman ein Thema, als es die Mittelmeerfluchten noch nicht gab. Das ist dem Film als aktueller Kontext zugewachsen.“ (Lutz Seiler, Lyriker und Schriftsteller)
Dramaturgisch haushaltet der Film (Drehbuch: Thomas Kirchner, „Der Turm“ und alle 11 „Spreewaldkrimis“) überzeugend mit der überschaubaren Handlung des Romans. 35 Minuten lang kann man als Zuschauer noch annehmen, dass Kruso ein Fluchthelfer sei, und Ed dessen Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Dann offenbart Kruso seine wahre Mission. Auch die Verbundenheit der beiden bekommt nun eine magische (statt erotische) Dimension: Beide haben extreme Verlusterfahrungen gemacht. Kruso musste als Kind sogar zusehen, wie seine Mutter, eine Akrobatin, in den Tod stürzte. Im Mittelteil des Films wird die „Therapie“ der auf Hiddensee Gestrandeten näher ausgeführt. Gedrucktes und geistige Getränke sorgen für scheinbar paradiesische Zustände – bis die Fluchtwelle andernorts für eine Krise im Klausner sorgt. Das Schlussdrittel konzentriert sich dann auf die Freundschaft der beiden Hauptfiguren, welche einige Male auf die Probe gestellt wird. Hat zunächst der Hiddenseer den Hallenser mehrfach gerettet, bekommt nun Ed die Möglichkeit, etwas zurückzugeben. Die Freundschaft ist denn auch für Stuber „das emotionale Rückgrat des Films“. Für den Zuschauer gilt das umso mehr, als Albrecht Schuch („Verräter – Tod am Meer“) und Jonathan Berlin („Die Freibadclique“) dem Atmosphäre-starken Fernsehfilm ihren Stempel aufdrücken. Die allmähliche Veränderung ihrer Charaktere (Kruso verfällt, Ed erstarkt) verlangt ein fein nuanciertes Spiel, das den beiden physisch wie psychisch gleichermaßen viel abverlangt. Das Besondere an „Kruso“ steckt ohnehin im Detail. Der Moment, die Augen-Blicke erzählen die spannendsten Geschichten. Man muss einfach nur hinschauen. (Text-Stand: 25.8.2018)