„Warum ziehen Männer in den Krieg, warum können sie ohne Krieg nicht leben?“ Die Frage ist so alt wie die Menschheit. Leo Tolstoi stellte sie in „Krieg und Frieden“, jenem epischen Riesengemälde des „heiligen Mütterchen Russlands“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Frage steckt noch immer in den Köpfen der Menschen, weil das Morden im Namen der Staatsräson weitergeht. „Wenn ich an die Napoleonischen Kriege denke, dann denke ich auch an unsere Zeit, an Vietnam, an den Irak…“, betont der Regisseur Robert Dornhelm. Er hat es gewagt mit Unterstützung von 11 Koproduzenten aus 7 Ländern, diesen Klassiker der realistischen Erzählkunst in 400 Filmminuten zu bannen, und so ein Stück Weltliteratur für ein heutiges Publikum erlebbar zu machen.
Da im Fernsehfilm heutzutage das weibliche Prinzip das Sagen hat, dominieren Liebe, Ehe und Beziehungsleben über Schlachtengetümmel. „Verständlich zu machen, inwiefern Krieg das natürliche Leben verändert“, darin sieht die ZDF-Redakteurin Birte Dronsek eine Intention des Vierteilers. Dieses Anliegen ist nicht weit von dem entfernt, was Tolstoi einst antrieb. Erzählt wird wie in dem 1868/69 erschienen Roman vornehmlich aus der Perspektive des russischen Adels. Drei unterschiedliche Familien, deren Wege sich immer wieder schicksalhaft kreuzen, geben der Geschichte ihre gesellschaftliche Grundierung. Da sind die lebensbejahenden Rostows, die sich nicht von der Etikette ihr Dasein vorschreiben lassen. Da sind die aus niederen Instinkten handelnden Kuragins, die sich der repräsentativen Welt des schönen Scheins hingeben, und die Bolkonis, eine auf Krieg und Mannestugenden fixierte Sippschaft um einen tyrannischen Fürsten. Als Bindeglied der Familien und ihren abweichenden Lebensphilosophien fungiert Pierre, unehelicher Sohn eines steinreichen Petersburgers, der durch Erbschaft in die Welt des russischen Adels aufsteigt.
Frauen und Männer, Leben und Tod, Liebe und Hass, Krieg und Frieden – universale Gegensatzpaare treiben die Geschichte(n) an, doch am Ende obsiegt die Freundschaft über die Feindschaft, die Vergebung über die Rache, das Mitgefühl über die Ignoranz. Die dritte große Verfilmung von „Krieg und Frieden“ erzählt wie seine beiden berühmten Vorgänger, der Hollywoodfilm mit Audrey Hepburn aus dem Jahre 1956 und das 400-minütige russische Kinospektakel, für das Regisseur Sergej Bondartschuk über vier Jahre zur Fertigstellung benötigte, von großer Zeitgeschichte und kleinen menschlichen Scharmützeln. Die Produktionskosten von 25 Millionen Euro sind bestens angelegt und spiegeln sich wieder in einer prächtigen Ausstattung, in stilvollem Kostüm, ausgefeilter Lichtdramaturgie und kluger Kameraführung. Gute Arbeit leisteten auch die drei Autoren, unter ihnen Enrico Medioli („Es war einmal in Amerika“). Sie zerstückelten Tolstois Meisterwerk nicht in einen postmodernen Flickenteppich, setzten nicht auf kurzatmigen Rhythmus, sondern hatten inhaltliche Geschlossenheit im Sinn. Lange, intensive Szenen dominieren, pompöse Feste und komplexe Ball-Sequenzen werden immer wieder von leisem, intimem Beziehungsspiel konterkariert.
Die ausgeklügelte Ästhetik macht dieses TV-Großereignis auch für Tolstoi-unkundige Zuschauer verständlich, zumal alle Figuren in der ersten Filmstunde deutlich zu verstehen geben, wessen Geistes Kind sie sind. Der blonde Wildfang Natascha, bezaubernd gespielt von Clémence Poésy, springt barfuss und verbal freizügig durch den Garten des Rostowschen Landsitzes, Prinz Andrej (Alessio Boni), ihr Auserwählter, hat spürbar die berühmten zwei Seelen in einer Brust und der heimatlose, selbstzweiflerische Pierre, den Alexander Beyer überzeugend verkörpert, ist die Gehemmtheit in Person. Auch bei den anderen gibt es kein vertun: Kubrick-Star Malcolm McDowell („A Clockwork Orange“), Brit-Ikone Brenda Blethyn, Hannelore Elsner, Ken Duken, Benjamin Sadler – alle gehen voll in ihren Rollen auf.
Der Film mag auf den ersten Blick ein Monumental-Epos sein. Ballsäle, Paläste, Schlachtfelder dominieren wie schon bei Tolstoi über die tristen, teilweise mit Folklore aufgehübschten Lebensumstände der russischen Leibeigenen. Allein schon die Anhäufung unverschämt schöner Frauen und schneidiger Mannsbilder kann den Zuschauern den Atem verschlagen. Dennoch hat man nicht den Eindruck, es bei diesem „Krieg und Frieden“ nur mit Oberflächenreizen zu tun zu haben. Vielmehr setzt sich einmal mehr die Erkenntnis durch: Egal wann und in welchem Medium erzählt, eine gute Geschichte ist und bleibt eine gute Geschichte.