Nach über dreißig Jahren hat das deutsche Fernsehen endlich eine würdige Antwort auf den amerikanischen TV-Klassiker „Emergency Room“ gefunden. „Krank Berlin“ ist allerdings gerade zu Beginn derart furios, dass zumindest die älteren Fans von braven Serien wie „In aller Freundschaft“ (MDR) oder dem Vorabendableger „Die jungen Ärzte“ angesichts der entfesselten Bildgestaltung ein Schleudertrauma befürchten müssen; von den blutigen Nahaufnahmen ganz zu schweigen. Die Kamera ist stets mittendrin im Getümmel, was zur Folge hat, dass sich Stress, Hektik und Übermüdung quasi hautnah vermitteln. Die vom Personal nur „Krank“ genannte Klinik liegt mitten in Neukölln und ist ähnlich heruntergekommen wie die Umgebung (als Drehort diente das ehemalige „Sport- und Erholungszentrum“ in Berlin-Friedrichshain). Material fehlt an allen Ecken und Enden, das Personal muss Doppelschichten schieben, die Klientel ist mitunter äußerst aggressiv, die Stimmung entsprechend angespannt; der ganz normale tägliche Wahnsinn.
Foto: Apple TV+ / ZDF
Wie so viele Produktionen dieser Art beginnt auch die ursprünglich im Auftrag von Sky entwickelte, dann aber von Apple TV und ZDFneo übernommene Serie mit einem Neuanfang: Aus privaten Gründen hat Internistin Suzanna Parker (Haley Louise Jones) ihre Stelle in München gekündigt, um am „Krank“ die Leitung der Notaufnahme zu übernehmen. Ihr Chef (Peter Lohmeyer) würde die Abteilung am liebsten dicht machen: Sie bringt der Klinik weder Geld noch Ruhm, ist aber ein erheblicher Kostenfaktor. Zanna will Struktur ins Chaos bringen, was erst mal für Unmut sorgt. Angesichts des permanent überfüllten Wartebereichs führt sie eine Behandlung nach dem Triage-Prinzip ein: Notfälle zuerst, alle anderen kommen später dran. Dass der BTM-Schrank ab sofort verschlossen bleibt und Entnahmen dokumentiert werden müssen, erzürnt vor allem den Kollegen Ben Weber (Slavko Popadic): Der Unfallchirurg kommt nach durchtanzten Nächten regelmäßig völlig verkatert zum Dienst und wirft ständig opioide Medikamente ein, um nicht am OP-Tisch einzuschlafen.
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Die dynamische Bildgestaltung erinnert mitunter an Kriegsfilme, wenn die Kamera beim Häuserkampf die Perspektive eines Soldaten einnimmt, der unter Beschuss um sein Leben fürchtet; in der letzten Folge wirkt die Notaufnahme nach einem Katastrophenfall in der Tat wie ein Lazarett. Gerade die Szenen mit Ben sind optisch und akustisch oft verfremdet, um zu verdeutlich, wie ihn Drogen oder Entzugserscheinungen aus der Bahn werfen. Die dramaturgisch in sich abgeschlossenen, aber dennoch horizontal erzählten acht Folgen leben ohnehin in erster Linie von den Figuren, die allesamt Licht und Schatten haben. Sie tun ihr Bestes, machen dabei jedoch auch erhebliche Fehler, und nicht alle lassen sich mit Erschöpfung entschuldigen: Damit ihre Abteilung nicht bloß ein Kostenfaktor ist, will Zanna für mehr Operationen sorgen, was nach einer im Grunde unnötigen OP eine Tragödie zur Folge hat; und der Kollege Kohn (Aram Tafreshian) ist zwar ein netter Kerl, der Belastung allerdings nicht gewachsen, weshalb ihm mehrfach lebensgefährdende Irrtümer unterlaufen.
Die vielschichtigste Rolle spielt Şafak Şengül, eine weitere von vielen kaum bekannten, aber famosen Besetzungen: Auch Emina Ertan ist anfangs wenig begeistert von Zannas Plänen, schlägt sich dann aber dank eines Deals auf die Seite der Chefin. Sie ist die einzige mit Familie: Bei einer Razzia ist ihr kleiner Bruder von einem Polizisten zusammengeschlagen worden, nun liegt er im Koma. Sie stellt den Beamten zur Rede, der erweist sich als uneinsichtig. Selbstredend folgt Samuel Jefferson dem ungeschriebenen Drehbuchgesetz, dass man sich immer zweimal im Leben sieht, und konfrontiert die Ärztin nach einem Großbrand in der Nähe mit einem erheblichen moralischen Dilemma.
Foto: Apple TV+ / ZDF
Chefautor Jefferson, kreativer Kopf der Serie, ist selbst ehemaliger Notfallmediziner; das erklärt den quasidokumentarischen Charakter der ungemein dicht inszenierten Folgen, wobei die ersten vier (Fabian Möhrke) noch etwas packender sind als die zweite Hälfte (Alex Schaad). Dass „Krank Berlin“ mit zunehmender Dauer etwas ruhiger wirkt, steht allerdings auch für Zannas Eingewöhnung; an ihrem früheren Arbeitsplatz, die Geriatrie der Münchener Uniklinik, dürfte es beschaulicher zugegangen sein. Lieblingsfigur des in Berlin lebenden britischen Autors ist womöglich der von Bernhard Schütz betont mürrisch verkörperte Rettungssanitäter Olaf, der in seinen vierzig Berufsjahren schon alles erlebt hat und seinen Job entsprechend desillusioniert erledigt. Junkies und Obdachlose würde er am liebsten liegen lassen; trotzdem riskiert er sein Leben ausgerechnet für einen Neonazi. Olafs Gegenstück ist seine neue Kollegin: Die angehende Ärztin Olivia (Samirah Breuer) ist eine junge Frau voller Ideale; und außerdem verliebt in Emina.
Wie Jefferson, Co-Creator Viktor Jakovleski und das vielköpfige Drehbuchteam all’ das unter einen Hut kriegen, ist beachtlich, zumal nicht nur die Schicksale der Notfälle, sondern auch diverse Nebenschauplätze für weitere Ebenen sorgen. Einige Ereignisse sind so absurd, wie man es sich kaum ausdenken kann: Eine Frau (Isabell Pollak), die nach ergebnisloser eingehender Untersuchung als Simulantin nach Hause geschickt wird, springt in die Windschutzscheibe von Olafs Rettungswagen. Ben kümmert sich um eine alte Fixerin (Susanne Bredehöft), die ihm nach ihrem Tod regelmäßig erscheint. Dass er sich „unter dem Radar“ eines jungen Patienten ohne Papiere annimmt, rächt sich prompt, weil der Mann anschließend seine „Cousins“ mitbringt. Ein Abstecher zu den völlig verwahrlosten Menschen in einem Seniorenheim wirkt wie ein Exkurs, entpuppt sich am Ende jedoch als clevere Einführung der bitteren Schlusspointe. Trotz der vielen großen und kleinen Geschichten wirkt „Krank Berlin“ nie episodisch oder zerfasert; die Montage ist ohnehin preiswürdig. Apple TV+ startet die Serie mit einer Doppelfolge, der Rest folgt nach und nach immer mittwochs.