In Regensburg passiert nicht alle Tage ein Mord. Und so bekommen es Ellen Lucas und ihr Team dieses Mal mit einer Geiselnahme und mit einer Vermissung zu tun. Verschwunden ist eine junge Frau, die sich wegstehlen wollte aus dem kleinkarierten Regensburger Vorstadtmief, aus der Bank, bei der sie gearbeitet hat, aus ihrem Elternhaus und der Wohnsiedlung, in der jeder nur auf den anderen schaut und dabei sein eigenes Leben vergisst. Bei der Bank hatte sie bereits gekündigt, die Tasche war gepackt. Offenbar wollte jene Anna mit einem Mann weg. Doch etwas kam dazwischen. Sie ist nicht abgehauen, sondern entführt worden. Was die Polizei nicht weiß: Anna lebt, sie ist eingesperrt. Die Frage ist: von wem?
Der neue Fall für „Kommissarin Lucas“ hält höchsten Krimiansprüchen stand. Der Film von Thomas Berger ist eine Vorortstudie, die im ermittelnden Vorbeigehen viel von den Lebensverhältnissen und der Atmosphäre in und um das kreuzbrave Städtchen einfängt. Zugleich ist der Film hoch spannend, weil es ihm gelingt, mit den Beziehungen der Kommissare die Krimihandlung doppelt emotional aufzuladen und sie homogen in die Geschichte einzubinden. Auch der Wechsel zwischen Gruppensituationen und intimen Szenen ist mit ein Faktor für den perfekten Filmrhythmus von „Spurlos“.
Foto: ZDF / Thomas R. Schumann
Das Auffälligste an diesem Film ist allerdings der ungewöhnliche Verlauf der Ermittlung. Nach einer Stunde wird der Fall noch einmal neu aufgerollt. Folgt man als Zuschauer also wie die Kommissare zwei Drittel des Films einer falschen Spur? Nicht ganz, der Zuschauer weiß von Anfang an mehr als die Polizei. Man fühlt sich nicht an der Nase herumgeführt, weil Lucas & Co nicht nach dem Muster der üblichen Verdächtigen verfahren, die einer nach dem anderen durch die Handlung gereicht werden, sondern weil Berger das Kripo-Team im Rahmen eines ungemein dichten, gut gespielten, packenden Kriminalfilms agieren lässt.
Geradezu perfekt ist der Film darin, wie er die Psychologie der Figuren dramaturgisch bindet. Das ist im Moment sehr wahrhaftig, bringt aber immer auch die Handlung voran. Dem relativ neuen Kollegen Leander (ganz neu im Team ist dieses Mal Julia Brandl: Inez Björg David spielt sie forsch, die Gruppendynamik bereichernd) wird vorgeworfen, er kopiere seine Chefin, die als unerbittliche Kommissarin gilt und die auch mal einen Kollegen vor versammelter Mannschaft zusammenstauchen kann. Er macht es ihr nach, wird ausfallend gegenüber einem Kollegen, der einen Fehler gemacht hat. Sie geht in dieser Situation nicht dazwischen, obwohl diese Strenge des Kollegen nicht mehr ihre Art zu kommunizieren ist. Sie kritisiert Leander später, indirekt, fast beiläufig und mit jenem Lächeln, dass sie weiß, dass er weiß. Er lächelt zurück. Lucas hat über die Jahre im Dienst gelernt, Menschen nicht mehr der Sache wegen „vorzuführen“ und sie so zu demütigen. Ihr Sinneswandel tut der Entwicklung der Reihe gut.
Die gemeinsame Stärke von Ellen Lucas, von Autor-Regisseur Thomas Berger und der Reihe „Kommissarin Lucas“ besteht darin, dass sie die Sprache als Werkzeug ernst nehmen und dass die Dialoge mehr als nur Lippenbekenntnisse sind. Die dramaturgische Logistik der Filme orientiert sich stets am Denken und an der Haltung der Heldin. Für „Spurlos“ gilt das im Besonderen: Es ist ein Meisterwerk der Interaktion. Und auch der Zuschauer wird dabei nicht vergessen: wunderbare Szenen entlassen ihn aus dem Film mit einem glücklichen Seufzer.