Regensburg war gestern. Kommissarin Ellen Lucas wagt einen Neuanfang in Nürnberg. Auf dem Weg zu ihrer neuen Dienststelle kracht ihr ein anderer Wagen in die Seite. Der Fahrer des Fahrzeugs flieht, in seiner Gewalt hat er einen verletzten Jungen. Der Mann um die 20, der kurz nach dem Unfall auch noch einer Polizistin deren Dienstwaffe abnimmt, hat allen Grund zur Flucht: Im Kofferraum liegt eine weibliche Leiche. Wie sich bald herausstellt, handelt es sich um die alleinstehende Grete Saller. Der Fahrer heißt Franz Vegener (Nick Romeo Reimann) und ist ihr Enkel; er wurde gerade erst aus der Haft entlassen. Da seine Großmutter vor Gericht gegen ihn ausgesagt hatte, gibt es für Lucas und ihre neuen Kollegen (Sebastian Schwarz & Claudia Kottal) also ein starkes Motiv. Der Junge, den Vegener in seiner Gewalt hat, ist dessen Halbbruder Maik (Luis Vorbach), der zuletzt bei seiner Großmutter lebte, so wie früher auch der ältere Franz. Der hat zuletzt einen deutlichen Hass auf Frauen entwickelt, dagegen idealisiert er seinen nicht existenten Vater. Die Mutter der beiden, Marie Vegener (Katharina Schüttler), derzeit mit ihrem vierten Kind schwanger, war jahrelang überfordert mit ihren Jungs. Jetzt hat sie zumindest mit Hardy Roth (Florian Karlheim) einen Mann, der es gut mit ihr meint, der allerdings in einer verdächtigen Beziehung zu ihrer toten Mutter stand.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Von sehr speziellen Familienverhältnissen, von kaputten Beziehungen und unbefriedigten Sehnsüchten, von Monstermüttern und Horrorsöhnen erzählt die 31. Episode der ZDF-Krimireihe „Kommissarin Lucas“. Ulrike Krieners Figur ist nach dem Abgang von Hannelore Hogers Bella Block und dem Ende von „Unter Verdacht“ mit Senta Berger die dienstälteste Kommissarin im ZDF. Nach 30 Filmen hat man Lucas, die es seit 2002 mit an die zehn verschiedenen Kollegen zu tun bekam, nun auch eine andere Stadt als neues Umfeld gegeben. In der Geschichte wird das motiviert mit einem vermeintlichen Versagen der Kommissarin bei ihrer alten Arbeitsstelle; woraufhin sie sich wenige Jahre vor der Pensionierung auf diesen Neuanfang in Nürnberg einlassen muss. Eine Figur wie Ellen Lucas wird sich treu bleiben. Die Episode „Nürnberg“ macht es bereits deutlich: Diese Frau hat nach wie vor höchste Ansprüche, fordert viel, von den Kollegen, vor allem aber von sich selbst, sie besitzt eine klare Haltung, Gefühle haben für sie bei Ermittlungen nichts zu suchen. Und sie ist noch immer schneller im Kopf als ihre jüngeren Kollegen. Natürlich übernimmt sie trotz Schleudertraumas den Fall selbst. Auch wenn der Polizeipsychologe (Heino Ferch) für Krankschreibung plädiert. Nicht mit Lucas. Bereits bei der Inspektion des Tatorts nervt sie die verordnete Halskrause.
Bei der Arbeit fühlt sich diese Frau einfach am wohlsten. Im Verdrängen ihrer psychischen Probleme war die Lucas immer schon spitze. Auch im Rahmen des Krimis sind die Szenen, in denen sie solo ermittelt – sprich: auf ihre Erfahrung baut – die markantesten. Wenn sie die Wohnung der Toten, die sich bald als der Tatort herausstellt, inspiziert und der Zuschauer ihr dabei gespannt folgt, oder wenn sie später mehrmals eine Vorstellung von der Tat entwickelt. Für solche Momente zieht sie sich am liebsten in den gläsernen Verhörraum zurück. Ihre Thesen zum Tathergang werden bebildert, was eine sinnliche Bereicherung für den Zuschauer darstellt. Regisseur Thomas Berger hat die ersten sieben Filme (und später noch zwei weitere) dieser ZDF-Premium-Reihe inszeniert und damit den kühlen, analytischen Blick – vor allem auch in der filmischen Umsetzung – maßgeblich mitgeprägt. In „Nürnberg“, diesem Familien-Drama, das sich eher ungewollt zu einem Krimifall mit einer Toten auswächst, und in dem mal wieder der Mutter-Mythos und die Abwesenheit der Väter eine zentrale Rolle spielen, kommt ganz der Augen-Mensch Lucas zum Tragen. Von allem, auch von ihren neuen Kollegen, macht sich die Heldin als erstes ein Bild. Das ist nicht das schlechteste Verhalten für einen Film.
Foto: ZDF / Barbara Bauriedl
Im Flow der 90 Filmminuten betrachtet, ist „Nürnberg“ ein sehr abwechslungsreicher, spannender Ermittlungskrimi: Christian Jeltsch, der mit „Das Totenschiff“ (2007) und „Bittere Pillen“ (2013) zwei wegweisende Episoden für die Reihe geschrieben hat, setzt auf eine dichte Dramaturgie, die weder auf einen klassischen Whodunit, noch auf ein offen geführtes Duell zwischen Täter und Kommissarin abzielt. Sechs Figuren werden geschickt im Wechsel in die Geschichte eingebunden. Vier davon bei einem vorgezogenen Showdown, bei dem in Actionfilm-Manier zwei Waffen aufeinander gerichtet werden; dazu aber auch die Psychologie als Alternative ins Spiel kommt. Das ultimative Finale kann sich ebenfalls sehen lassen. Ein emotional eindringlich inszeniertes, geschickt montiertes Parallelverhör wird in der letzten Minute noch entscheidend weitergedreht zu einem verblüffenden Schlusspunkt. Als Zuschauer fühlt man sich trotz der gewagten Plot-Wendungen seltsamer Weise nicht hinters Licht geführt, obgleich die narrative Konstruktion retrospektiv betrachtet doch einigermaßen abenteuerlich erscheint – sprich: König Zufall hat hier immer wieder ein Wort mitzureden. Das gute Tempo des Films sowie das sehenswerte Spiel, allen voran der prominenten Darsteller wie Kriener, Heino Ferch & Katharina Schüttler, lassen einen aber über die kleinen Ungereimtheiten (ein unaufgeklärtes Missverständnis geht der Tat voraus) hinwegsehen.
Die neuen Kollegen laufen bisher nur am Rande mit. Ob sie das Zeug dazu haben, Kriener/Lucas längerfristig auf irgendeine Weise herauszufordern oder nachhaltig zu provozieren, ist eher nicht anzunehmen. Auch was Sebastian Schwarz („Frau Temme sucht das Glück“ / „Andere Eltern“) und Claudia Kottal („Der Club der singenden Metzger“) betrifft, ist momentan noch zu bezweifeln, dass sie sich mit ihren Kommissaren eine solche Präsenz erspielen werden, wie es Michael Roll, Alexander Lutz, Florian Stetter oder Anna Brüggemann mit oft nur wenigen Episoden gelungen ist. Keine Frage, dass man sich darüber hinaus voller Wehmut erinnern wird an zwei wunderbare Sidekicks, an Tilo Prückner als Vermieter Max und an Anke Engelke (sie hielt immerhin fast zehn Jahre der Reihe die Treue) als Ellen Lucas‘ lockere Schwester Rike. Umso mehr ist es zu hoffen, dass Heino Ferch, der im Vorspann als „Gast“ geführt wird, der Reihe nach dem Relaunch erhalten bleibt mit seiner kleinen, feinen Rolle. Die nicht immer nur augenzwinkernden Doppel zwischen seinem Psychologen und der Kommissarin, die den für Ferch-Verhältnisse ungewohnt umgänglichen Mann sogar bis in die Männerdusche verfolgt, sind jedenfalls ziemlich charmant und ein Satz wie „Einsamkeit ist nicht gesund, schon gar nicht, wenn man älter ist“, wäre ein sehr schöner Beginn für eine wunderbare Freundschaft. (Text-Stand: 11.1.2021)