Zwei Kinder sind entführt worden. Drei Millionen Euro beträgt das Lösegeld. Die Mutter der Mädchen, Eva Steiner, Managerin eines Pharma-Familienunternehmens, soll die Geldübergabe abwickeln. Was der Erpresser nicht weiß, die Polizei wurde eingeschaltet. Am Ort der Übergabe stehen ein gutes Dutzend Polizisten standby, jedoch kein SEK, dazu war die Zeit zu knapp. Boris Noethen ist verantwortlich für die improvisierte Aktion, die in einem Fiasko endet. Steiner wird angeschossen; der Erpresser ebenfalls, er schwebt in Lebensgefahr. Ellen Lucas weiß nicht, was sie von dem Ganzen halten soll: der Schusswechsel gibt Rätsel auf; der Erpresser entpuppt sich als Steiners Schwager, einst rechte Hand der Erpressten, der vor drei Monaten entlassen wurde, offenbar wegen des Faibles für Kinderpornos; und diese Eva Steiner und ihre Schwester Marion, die Frau des Erpressers, sind schwer zu durchschauen. Die eine weiß offenbar nichts, die andere sagt nichts. Hinzu kommt, dass Boris den Einsatz betrunken geleitet hat und dass auch Martin die Rolle des ewigen Kripo-Assistenten satt hat und hinter dem Rücken der Lucas gegen sie intrigiert. Doch das ist längst nicht alles…
Es geht Schlag auf Schlag. Bereits in der ersten Szene von „Kommissarin Lucas – Bittere Pillen“ verschwinden die Kinder. Während die Titel laufen, hört man die Forderungen des Erpressers. Danach sieht man die Vorbereitung zur Geldübergabe. Es ist wenig Zeit. Man bekommt es zu spüren. Sinnlich. Die Situationen wirken hastig, die Polizisten gehetzt. Bevor man sich versieht, fallen Schüsse, liegt der Täter im Koma, wird Kripochef Noethen von Lucas aus dem Verkehr gezogen, daraufhin in Kur geschickt, führt sich Kollege Martin auf wie ein Wahnsinniger. Bald klebt Blut an seinen Händen. Danach kann man als Zuschauer erst mal etwas durchatmen. Die Ermittlungsarbeit beginnt. Dabei machen die Neuen erstmals eine gute Figur. Besonders ins Zeug legt sich Alex Eggert. Nachdem sie und ihre Darstellerin Anna Brüggemann zum Einstand blass blieben, wandelt die Jungkommissarin in „Bittere Pillen“ auf Ellen Lucas’ Spuren. Prompt gibt es Lob: „Mir gefällt die Art, wie Sie denken.“ Ehrgeizig, hoch motiviert, etwas zwanghaft – so könnte auch die junge Ellen Lucas drauf gewesen sein. Ein Sinnbild für beide ist eine Szene auf dem Kommissariat: Es ist spät, grelles, kaltes Licht, dazu die übernächtigten, vom Fall gezeichneten Gesichter der Kommissarinnen. Nicht nur in dieser Szene kann Anna Brüggemann, eines der größten Talente ihrer Generation, nachdrücklich beweisen, dass sie eine gute Wahl für die Reihe ist.
Autor Christian Jeltsch, der unter anderem mit dem Korruptionsmotiv der „Lucas“-Reihe etwas internationalen Serien-Touch verleiht, hat auch Ellen Lucas zu alter Stärke & ihren Wurzeln geführt. Eine Kommissarin mit Menschenkenntnis, Intuition, Einbildungskraft, die Vieles erst mit sich selbst ausmacht, bevor sie es an die große Glocke hängt. Ulrike Kriener ist eine Schauspielerin, die solche Reflexionen andeuten kann, deren Blicke dem Zuschauer Aufschlüsse geben können. Sie kann einen an den Ahnungen ihrer Figur teilhaben lassen. Diese Methode funktioniert aber nur, wenn der Plot und die anderen Figuren eine gewisse Tiefe besitzen. Bei den letzten „Kommissarin-Lucas“-Filmen war das nicht immer der Fall. Die Blicke von Lucas/Kriener waren Behauptung und wirkten in einem Umfeld von Krimi-Routine hinter der banalen Handlungsfülle einfach nur unangemessen und bedeutungsschwer.
Mit Nina Kunzendorf, Anne Ratte-Polle und Brüggemann hat Lucas/Kriener nun adäquate Projektions-Flächen als Gegenüber. Und die Figuren haben – auch wenn sie durch den Krimiplot uneindeutig bleiben müssen – zumindest einen dramatischen Kern und (in ihrer Optik) scharfe Konturen. Kunzendorf perfektioniert hier ihr reduziertes, fast ausdrucksloses Spiel und verrät so nichts von den Motiven ihrer Figur. Ein zweites Rätsel auf zwei langen Beinen ist auch die Figur von Anne Ratte-Polle. Die Psychologie der beiden Schwestern kann in dem Krimi genregemäß nur angedeutet werden. Umso wichtiger die visuelle Interaktion: Die Szene, in der sich die Schwestern das letzte Mal begegnen, besitzt eine hohe Intensität. Auch Regie, Kamera, Szenenbild und Kostüm tragen maßgeblich zur Kraft dieser Bildfolge bei.
Dennoch wird es Zuschauer geben, die sich fragen werden, ob alles, was bei der Geldübergabeaktion (die Sache mit der Waffe beispielsweise) passiert, wirklich logisch ist. Etwas seltsam mutet auch an, dass das Thema des Krimis, europäische Medikamenten-Versuche in Schwellenländern, das der Episode ihren Titel gibt und mit dem das ZDF die Journalisten im Presseheft befeuert, erst ganz am Ende aus der Kiste gesprungen kommt. Offenbar ist auch länger an dem Film (herum)geschnitten worden. Der „internationale“ Erzählstrang ist äußerst knapp und verläuft etwas unmotiviert. Und der Erpresser, gespielt von Ben Braun, wird unter den Gastschauspielern an vierter Stelle geführt, im Film aber taucht er so gut wie nicht auf. Fazit: „Bittere Pillen“ ist ein „Lucas“-Fall, der endlich mal wieder an die besten Episoden der beliebten ZDF-Reihe anschließt. (Text-Stand: 15.8.2013)