Klassentreffen: vierstündiges Wiedersehen nach einem Vierteljahrhundert
Die meisten haben sich 25 Jahre nicht gesehen. Damals haben diejenigen, die keine Ehrenrunden gedreht haben oder denen nicht der eine entscheidende Punkt gefehlt hat, Abitur gemacht. Nun sind 17 ehemalige Klassenkameraden für einen Abend wieder zusammengekommen, in jenem Lokal, in dem die meisten von ihnen vor einem Vierteljahrhundert ihre Schulzeit feuchtfröhlich beendet haben, um ins Erwachsenenleben durchzustarten. Da ist Krischi (Charly Hübner), der verlässliche Freund, der heute ein wertkonservativer Familienvater ist. Da sind seine besten „Kumpels“ von damals, Ali (Kida Khodr Ramadan), der als Tierarzt „fette Kohle“ macht, und Stefanie (Anja Kling), mit der sich Krischi noch immer mehr als dicke Freundschaft wünscht. Gekommen sind auch Sexy-Hexy Astrid (Anna Schudt), die zurückhaltende Katharina (Nina Kunzendorf) und die Tratschtante Sandra (Elena Uhlig), erfolgreiche Anwältin und hochschwanger. Sie bringt ausgerechnet die beiden, die die Feier so umsichtig organisiert haben und die sich früh das Ja-Wort gaben, Gesa (Annette Frier) und Thorsten (Oliver Wnuk), in arge Verlegenheit. Das emotionale Chaos hat seinen Ursprung beim ewigen Männertraum Marion (Jeanette Hain), der immer schon Rätselhaften, heute noch durchgeknallter als früher, für die der schüchterne Stefan (Björn Jung) und besonders Andi (Aurel Manthei) geschwärmt haben. Für ihn besitzt die Aufschrift des Klassentreffen-T-Shirts, „Dieses Leben hatte ich nicht bestellt“, den sichtlich tragischsten Unterton. Arm, aber dafür glücklich scheint hingegen der Taxi-fahrende Musiker Hergen (Marek Harloff) zu sein. Wie schon vor 25 Jahren spielt Sven (Fabian Hinrichs), „der Arsch der Jahrgangsstufe“, auch heute in einer anderen Liga. Der kommt mal eben aus den USA in die miefige deutsche Provinz gejettet, um sich zu entschuldigen und beklauen zu lassen.
18 Schauspieler, Rollenprofile statt Drehbuch, 32 Kameras & eine einzige Klappe
Mit seiner dritten Impro-Komödie „Klassentreffen“ hat sich Jan Georg Schütte an jenes gleichnamige Phänomen gemacht, bei welchem die meisten Zuschauer wohl noch besser „mitreden“ können als bei den Themen von „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ und „Wellness für Paare“. Mit diesen beiden Filmen hat der Schauspieler, Autor und Regisseur ein fürs deutsche Fernsehen neues Genre erschlossen: den improvisierten Fernsehfilm, entstanden ohne Drehbuch, allein basierend auf Rollenprofilen. Für Schüttes neuesten Streich heißt das: Es gab 18 Schauspieler. Jeder wusste nur so viel, wie seine Figur weiß. „Wenn sie vor 25 Jahren den Kontakt mit dem- oder derjenigen verloren hatten, dann wussten sie von dieser Figur nur den Stand von damals“, so Schütte. Schauplatz des Klassentreffens war ein realer Gasthof mit mehreren Sub-Locations (Saal, Theke, Toilettenbereich, Besenkammer, Raucherecke), der über vier Stunden ohne Unterbrechung bespielt wurde. Anders als bei seinen Vorgängern wurde also nur eine einzige Klappe geschlagen: Die Interaktionen sind ungeordneter, ihre narrativen Potenziale (weil die Figuren eine gemeinsame Vergangenheit haben) größer. 32 Kameras waren unsichtbar im Einsatz. Es gab einen Kontrollraum mit 20 Monitoren; Eingriffsmöglichkeiten für die Regie gab es jedoch kaum. Als Wirt konnte sich Schütte allenfalls mal mit einem Kölsch-Kranz unter die Gäste mischen und einen technischen Tipp geben („Stell Dich mal ein bisschen weiter nach rechts, dann verdeckst du den anderen nicht“). Es wurden 130 Stunden Material aufgezeichnet. Anschließend benötigten Benjamin Ikes und sein Team fast ein ganzes Jahr, bis der 90minütige Film fertig geschnitten war.
„Als Motiv diente uns ein leerstehender Gasthof in Köln Hürth, der für 32 Kameras hergerichtet wurde. 24 Kameraleute brachten sich in Position, 2600 Meter Kabel mussten unsichtbar verlegt werden, für Bildmonitore und einen guten Ton. Jeder Darsteller hatte in seiner Kleidung ein unsichtbares Mikrophon versteckt, das über Funksignal auf das Mischpult des Tonmeisters übertragen wurde … An ihren Monitoren waren in unterschiedlichen Bereichen die Produzenten und die Redaktion damit beschäftigt, die Kameraleute über Funk dahin zu führen, wo es zwischen den „ehemaligen Mitschülern“ interessant, emotional, streitsam und spannend wurde.“ (Uli Aselmann, Produzent)
„Sie sind völlig unverändert“. Alle übernehmen wieder die Rollen von damals
Der Abend beginnt und nimmt seinen Lauf, wie es für solche Veranstaltungen typisch ist. Nach dem großen Hallo steht (fast) jeder erst mal mit jedem rum: ein bisschen Smalltalk, Abfragen der privaten Essentials, erste Grüppchen-Bildungen. Dann kommt es immer öfter zu Zwiegesprächen, es wird teilweise persönlicher, emotionaler. „Let’s have fun tonight“, gibt dagegen Harald (Christian Kahrmann) sein Motto des Abends zum Besten und versucht, Nina (Nicole Kersten) zu küssen, die ihn auf später vertröstet. Nicht alle Unterhaltungen gewinnen an Tiefe, die Art der Kommunikation lässt dafür mit steigendem Alkoholpegel umso tiefer blicken. Selbst wer sich lange am Wasser festhält, ist nicht davor gefeit, dem besten Freund von einst sein Getränk ins Gesicht zu kippen. Es bilden sich Koalitionen, alte Konflikte brechen auf – und man zieht auch schon mal über andere her. Alle scheinen wieder in die Rollen von damals zu rutschen. „Sie sind völlig unverändert“, erkennt denn auch der ehemalige Deutschlehrer (Burghart Klaußner), der abseits sitzend Distanz wahrt und sich darüber wundert, dass sich alle hier dauernd streiten. Mit diesem süffisant schmunzelnden Rebentisch hätte einer ganz gern noch ein Hühnchen gerupft: „Ein einziger Punkt mehr“, jammert Andi, den jener fehlende Punkt das Abi und das Germanistikstudium gekostet hat, so jedenfalls stellt es der Aushilfspfleger heute dar. Der gemütliche Teil des Abends nimmt auch ungemütliche Entwicklungen. Geht da ein Dieb um oder bereitet es einem nur eine diebische Freude, den Klassenschnösel aus besserem Hause endlich mal aus der Fassung zu bringen? Sorgt da eine ominöse Affäre für einen Klassentreffen-Eklat? Ganz so schlimm kommt es am Ende nicht. Tränen fließen dennoch, es gibt Entschuldigungen und einer kotzt noch schnell in die Menge, bevor der Abend mit einem melancholischen Live-Song zu Ende geht.
Soundtrack:
Snap („The Power“), Sinéad O’Connor („Nothing Compares 2 U“), Police („Message In A Bottle“), R.E.M. („Man On The Moon“), The Cure („Friday, I’m In Love“), Prince („Purple Rain“), Black („Wonderful Life“), Die Prinzen („Küssen verboten“), Dschingis Khan („Dschingis Khan“), Inner Circle („Sweat“)
Wie im Leben: Rollen-Klischees entsprechen der Wahrnehmung des Gegenübers
In Anlehnung an die psychotherapeutische Methode der „Familienaufstellung“ kann man bei Schüttes Film von einer Art „Klassenaufstellung“ sprechen. Jeder übernimmt eine typische Rolle im virtuellen Klassenverbund. Als Zuschauer bekommt man einen guten Überblick; denn wo sich das Entscheidende tut, ist immer auch eine Kamera. Und da sieht man die, die mit ihrem Schicksal mehr oder weniger offen hadern, die, die mit sich selbst absolut im Reinen sind („Mir geht es prima, ich habe eine geile Ehe, ich habe geilen Sex, ich hab einen geilen Mann, ich habe geile Kinder, ich habe wahnsinnig viel Kohle“), und die, deren glückliche Fassade ein wenig zu bröckeln beginnt, da Kohle und Kindersegen eben nicht alles sind. Jede Figur besitzt einige Haupterkennungsmerkmale, die sie allerdings nicht zum Klischee werden lässt. Diese vier Stunden laufen ähnlich ab wie die Rollenspiele im richtigen Leben. Jedes Personenprofil besitzt sichtbare, versteckte und allenfalls erahnbare Anteile. Viele der Klassentreffen-Teilnehmer haben vom Großteil der ehemaligen Kameraden nur ein vages Bild, das sich vor allem aus dem Image der Jugendzeit speist. Ein wirkliches Interesse am Gegenüber haben nur die wenigsten; und einige sind nur gekommen wegen ihres großen Schwarms. Dadurch geraten selbst die Rollenbilder, die etwas einfacher gestrickt sind (der Loser, der Schüchterne, die Klatschtante, die Verlassene, der verheiratete Schwule, die Langweilige), nicht in den Ruch des Klischees, sondern sie entsprechen vielmehr der Alltagswahrnehmung. Die Figuren und die Schauspieler sind dabei das Herzstück des Films. Sie erzählen von früher, von Gefühlen, von Unverdautem, von Verdrängtem. Holt sich der Schauspieler sonst den Stoff für sein Spiel aus dem Drehbuch, so ist es in Schüttes Impro-Komödie umgekehrt: Der Autor-Regisseur komprimiert aus dem, was ihm die Schauspieler aufgrund der Rollenprofile anbieten, kleine Geschichten mit alltagsnahem Konfliktpotenzial.
Als Jan Georg Schütte im Schneideraum den 90-minütigen Fernsehfilm „Klassentreffen“ vollendete, musste er sich auf relativ wenige Stränge und Szenen beschränken. In der sechsteiligen Serie „Klassentreffen“ (ab 8.3. auf One) werden einige der Geschichten rund um die ehemaligen Klassenkameraden nun weiter vertieft, man erfährt noch mehr über einzelne Figuren, ihre Entwicklung, ihre Sehnsüchte und ihre Dramen – und kann noch tiefer eintauchen in das kluge und empathische Improvisationsspiel des mit viel Lust und Leidenschaft agierenden Ensembles. Man kann sich freuen über die Folgen um Gesa (Annette Frier), Ali & Hergen (Kida Khodr Ramadan & Marek Harloff), Marion (Jaeanette Hain), Sandra (Elena Uhlig), Krischi (Charly Hübner) & Thorsten (Oliver Wnuk).
Der Zuschauer kann dieses Klassentreffen mit den eigenen Erfahrungen abgleichen
Die besondere Faszination von „Klassentreffen“ liegt – über die Produktionsgeschichte hinaus – in der großen Anschlussfähigkeit der erzählten Situationen. Einigen Zuschauern werden diese Geschichten bekannt vorkommen. Viele werden sie mit eigenen Erfahrungen abgleichen oder sie lustvoll im Kopf weiterspinnen. Die ungewöhnliche „Erzählform“ ermöglicht es andererseits aber auch, eine größere Distanz zum Film herzustellen und die Einheit zwischen Schauspieler und Rolle gelegentlich zu vergessen – und sich so ganz auf die Improvisations-Kunst von Hübner, Frier, Ramadan & Co zu konzentrieren und mitunter darüber zu staunen, wie es trotz fehlendem Drehbuch zu all diesen narrativen Konflikten und dramaturgischen Verdichtungen kommen kann. 17 kleine Stücke Leben, ein Abend, der realistisch verläuft, ein Geschehen als Redefluss, und das Überraschungspotenzial ist größer als bei einer Geschichte, die sich ein Autor ausgedacht hat. Das Ganze ist weniger geordnet, weniger pointiert; Zufall und Spontaneität spielen Hauptrollen. Verzichtet wird auf eine streng durchstrukturierte Narration mit Subtexten und Projektionsangeboten. Es werden verschiedene Tonlagen angeschlagen. Am Ende ist „Klassentreffen“ vor allem eine Komödie mit tragischen Momenten und – anders als bei den Vorgängern – einigen Sätzen, die man nicht so schnell vergessen wird. Da ist die Rede vom „Kuss, der 20 Jahre gehalten hat“, da ist die coole Wortneuschöpfung „Gänsehautentzündung“, da ist Krischis verbaler Schlag in Alis Magengrube („Deine Eltern hätten niemals hierherkommen dürfen“), dessen empfindsame Antwort („Du machst mein Herz kaputt“). Unvergesslich auch Schudts „kurvenbetontes Outfit“ (Presseheft) und der Satz „Ich war nicht mit jedem zusammen, ich hab‘ nur mit jedem rumgemacht“. Auch der „groß“ denkende Sven hat so manchen (die anderen abwertenden) Spruch parat: „Das sind alles nur einsame, kleine Gurken.“ (Text-Stand: 5.2.2019)