Eine Frau schwer verletzt, ihr Mann tot und ihre Tochter verschwunden
Als ob ihr eigenes Schicksal nicht schlimm genug wäre! Nora Schwarz (Petra Schmidt-Schaller) wurde angeschossen und erwacht nach zehn Tagen aus dem Koma, um erfahren zu müssen, dass ihr Mann Mickey (Golo Euler) tot und Jella, ihre einjährige Tochter, verschwunden ist. Die Polizei ist skeptisch, was Noras Aussagen angeht. Kommissar Leyen (André Szymanski) verdächtigt sie, nimmt an, dass die überforderte Mutter und Klinikärztin ausbrechen wollte aus der Ehe mit einem seelisch labilen Möchtegern-Künstler, und glaubt an einen Komplicen oder Geliebten. Kollegin Sarah Bäumler (Inez Bjørg David) hält hingegen Nora für unschuldig. An Leyens Skepsis ändert sich auch nichts, als sie sich nach dem Eingang einer Lösegeldforderung bei Mickeys Eltern (Zischler & Trautmannsdorff) an die Polizei wendet; ihr Anwalt und Freund Leo (Sebastian Bezzel) hat ihr dazu geraten. Die Übergabe scheitert allerdings. „Keine zweite Chance“, brüllt einer der Erpresser. Das Geld ist weg und von Jella keine Spur. Die Entführer melden sich dann aber doch wieder – ein Jahr später! Diesmal kommt Nora der Forderung „keine Polizei!“ nach. Hilfe holt sie sich von ihrem Freund Robert (Murathan Muslu), einem ehemaligen BKA-Ermittler. Offenbar handelt es sich um drei Erpresser, einer ist die schwer abgestürzte Lydia Stern (Josefine Preuß), einst ein gefeierter Popstar. Heute liebt sie es brutal: „Ich find’s besser, wenn die Schwarz stirbt.“
Anmerkung vom 15.11.17:
Der Film stand nur in einer Rohfassung zur Verfügung. Ohne die finale Mischung muss für eine ganzheitliche Filmkritik die Bewertung selbstredend eine vorläufige bleiben. Eventuell kann es bei den Sternen noch um einen halben raufgehen.Anmerkung vom 3.12.17: Korrektur nach oben – fünf Sterne!
Kritiker schimpfen gern – und oft zu recht – über die Musik von Fernsehfilmen. Bei „Keine zweite Chance“, dessen 1. Teil ich in der Rohfassung ohne Musik und ohne Sounddesign und dann zwei Wochen später noch einmal in der Endfassung gesehen habe, wurde mir vor Ohren geführt, wie gut auch ein TV-Score sein kann und wie sehr er die Geschichte miterzählt. Ohne diesen Anteil der Musik an der Narration haben mich die Bilder und Dialoge beim ersten Sehen in eine ganz andere, teilweise falsche Richtung gelenkt. Beim zweiten Sehen war es für mich nicht mehr vornehmlich ein „Event-Zweiteiler-Genre-Mix-Knaller“, sondern vielmehr das emotionale Drama einer Mutter. Der Score von Wolfram di Marco macht dies deutlich; erfreulicherweise ohne das große Besteck auszupacken. Dezent wird das Beunruhigende und Ungewisse der Situation musikalisch thematisiert. Ich würde behaupten: Ich habe beim zweiten Mal einen anderen Film gesehen. Und so konnte ich denn auch die filmische Klasse, den guten Erzählfluss oder die vorzügliche Exposition mit ihren Zeitsprüngen (die liebende Mutter, die lebensgefährlich Verletzte, das wohl behütete Umfeld, das Erwachen aus dem Koma, die tragischen Ereignisse), erst in der finalen Fassung angemessen wertschätzen. Teil 2 liegt immer noch nicht in der Endfassung vor. Dieser schien mir aber bereits bei der ersten Sichtung „fertiger“ zu sein: Mit seiner Spannung und den klugen Twists kommt dieser Teil dem „Event-Zweiteiler-Genre-Mix-Knaller“ näher. Teil 1 indes ist für mich ein Thriller mit hohem Drama-Anteil.
Extremer Genre-Mix: knallig, charakterstark, mal Action, mal Drama
Der Plot deutet es schon an. Der Zweiteiler „Keine zweite Chance“ setzt auf eine Tonlagen- und Genre-Mixtur, wie man sie selten im deutschen Fernsehen sieht: mal laut und knallig, mal sensibel, leise & charakterstark. Action-geladene Sequenzen wechseln sich mit psychologisch motivierten Szenen ab. Sind die meisten Mehrteiler oder Mini-Serien heute deutlich auf ein Genre fokussiert („Das Verschwinden“: Drama; „Das Programm“: Krimi-Thriller), während ein anderes vornehmlich nur eine narrativ verdichtende Funktion besitzt, lässt sich bis zum Ende des Films von Alexander Dierbach („Tannbach“) nach dem Drehbuch von Hannah Hollinger („Über Barbarossaplatz“) nur schwer sagen, welche Genre-Stimmung hier die Oberhand hat. Das kann eine Schwäche, aber auch eine Stärke sein. Eine Schwäche, weil dem eine gewisse Unentschiedenheit der Macher zugrunde liegt, eine Stärke, weil dieser Mix für Abwechslung sorgt und immer für eine Überraschung gut ist und weil eine solche Dramaturgie dem Zuschauer die Entscheidung überlässt, was er in dem Film sehen möchte. Darin ähnelt „Keine zweite Chance“ – trotz einer völlig anderen Geschichte – dramaturgisch dem Zweiteiler „Entführt“ (2009), für den auch u.a. Hollinger das Buch schrieb. Es war ihr erster Event-Zweiteiler-Genre-Mix-Knaller (genauso wie für Regisseur Matti Geschonneck). Der Stoff für ihr erstes Drehbuch für einen Privatsender – nach dem Roman des US-Amerikaners Harlan Coben – ist allerdings intimer, vom Plot & Personal her überschaubarer.
Durch Petra Schmidt-Schaller emanzipiert sich das Drama vom Krimi
Da ist die Geschichte der Hauptfigur, die binnen kürzester Zeit ihren depressiven Mann und ihre drogenabhängige Schwester verliert – und die auf der Suche nach ihrer entführten Tochter über den Zeitraum eines Jahres ein regelrechtes Martyrium durchlebt. Für sie ist es ein Wechselbad der Gefühle. Die Hoffnung, ihre Jella eines Tages wieder in den Armen zu halten, will diese Frau nicht aufgeben. Ihre Tragödie tendiert eindeutig zum Drama. Jene Nora ist zwar sehr aktiv, engagiert und sie ist zwei Mal die Überbringerin von zwei Millionen Euro Lösegeld, wächst aber nicht Helden-typisch über sich hinaus. Sie handelt, bleibt aber die still Leidende, die notfalls von anderen gerettet werden muss. Ohne Polizei kann diese Geschichte also nicht funktionieren – und auch ein abgehalfterter BKAler ist nicht genug, um die Erpresser, die nur die unterste Stufe einer kriminellen Bande sind, zu überführen. Die Krimi- und Thriller-Passagen des Zweiteilers driften gelegentlich in Richtung Räuberpistole; doch mit Petra Schmidt-Schaller, die alle Stimmungslagen überzeugend durchlebt und durchleidet, wird immer wieder eindrucksvoll das private Drama (einer Familie) aktualisiert und das schwere Schicksal dieser Frau ins Zentrum gerückt. Sinn(bild)lich dafür steht ihre Maske: Völlig ungeschminkt wirkt Schmidt-Schallers Gesicht den ganzen Film hindurch. Diese Frau hat Wichtigeres im Kopf; wenn das Wichtigste fehlt, wird alles andere unwichtig. Es sind im Übrigen nicht nur zwei Genres, die sich hier abwechselnd in den Vordergrund spielen; es sind auch zwei ganz unterschiedliche Geschichten, die an jenem tödlichen Morgen in der Familie Schwarz ihren Anfang nehmen: eine private, intime und eine öffentliche, kriminelle. Beide haben ihre eigene Logik und Dynamik. In der Schlussszene obsiegt das Drama. Das Ende könnte der Beginn eines neuen Films sein. Filme, die so erzählen, sind nie die schlechtesten.
Interessanter, namhafter Cast – nicht immer nur die üblichen Verdächtigen
Was das Filmästhetische angeht, lässt sich kein abschließendes Urteil über den Zweiteiler bilden, da beide Teile der Presse nur in einer Rohfassung (ohne Musik, Sounddesign und finale Montage) zur Verfügung standen. Die Besetzung auf jeden Fall ist beachtlich und unterscheidet sich deutlich von anderen sogenannten „Event“-Movies von Sat 1, die häufig im Ausland gedreht werden, mit mittelmäßigen, schlecht synchronisierten Nebendarstellern. Dierbach indes durfte bis in die Ein-Zwei-Tagesrollen Schauspieler wie Jasna Fritzi Bauer oder Peter Schneider verpflichten. Durchweg namhaft und sehr passend besetzt sind die tragenden Nebenrollen mit Schauspielern wie Hanns Zischler, Sebastian Bezzel, André Szymanski oder Inez Bjørg David, die schon 2010 in „Kommissarin Lucas“ ihre Eignung für dramatische Ermittlerrollen unter Beweis stellen konnte. Zwei ganz besondere Hingucker sind Murathan Muslu und Josefine Preuß. Der Wiener mit türkischer Herkunft ist bei uns durch einige „Tatorte“, insbesondere dem Grimme-Preis-gekrönten „Angezählt“ (2013), aufgefallen, und darf hier in einer Rolle als gebrochener Ex-Polizist zeigen, dass er sehr viel mehr drauf hat als nur den harten Burschen und Klischee-Gangster. Die Gegenläufigkeit von bisherigem Rollen-Image, äußerem Erscheinungsbild und einem mehrdimensionalen Charakter geben Muslus Figur eine attraktive, sympathische Unberechenbarkeit. Gegen ihr Image besetzt, wurde auch Preuß. Aus dem Komödien-Girlie, der Heldin mehrerer TV-Events und der liebenswerten Dramödien-Lotta wird zum ersten Mal in ihrer Karriere ein ganz schlimmer Finger. Selbst missbraucht & misshandelt, versteht es ihre Figur, mit brutaler Gewalt ihr Ego zu stärken. Ein durchaus respektabler Image-Bruch. Jetzt warten wir nur noch darauf, dass Petra Schmidt-Schaller zur Primetime eine eiskalte Killerin spielt. (Text-Stand: 15.11.2017)