Merle kann sich nur schwer konzentrieren. Sie ist ständig mit den Gedanken woanders, sie verliert sich in den Dingen. Die 11-Jährige bekommt immer größere Probleme in der Schule. Ihren Tagträumereien gibt eine Psychologin einen Namen: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom alias ADS. Sie rät Merles Eltern zu einer zweigleisigen Behandlung: Verhaltenstherapie, kombiniert mit Psychopharmaka. Doch Pillen kommen für die Eltern nicht infrage – und so entwickeln die beiden ein Lernprogramm für zu Hause, Nachmittag für Nachmittag. Unter der enormen Mehrbelastung leidet nicht nur die Arbeit der Eltern, die als Bauleiter tätig sind, auch die größere Tochter fühlt sich zunehmend vernachlässigt, und eine Ehekrise ist nur eine Frage der Zeit. Als die elterliche Selbsthilfe kaum schulische Erfolge zeitigt, Merles Mutter einen Zusammenbruch erleidet und die zweite Tochter plötzlich verschwunden ist, bricht in der Familie plötzlich alles zusammen. Welchen Ausweg gibt es aus der verfahrenen Situation?
Foto: MDR / ORF / Andreas Wünschirs
Regine Bielefeldt arbeitet sich für das Drehbuch von „Keine Zeit für Träume“ alltagsnah und problemorientiert am Phänomen ADS ab. Das Krankheitsbild und die möglichen Folgen für die Familien-Kommunikation werden in dem ARD-Fernsehfilm beispielhaft durchgespielt. Das ist bezogen auf die verschiedenen Positionen zum Thema (pro/contra Medikation, Einsatz für Chancengleichheit, „früher gab’s auch kein ADS“, „nur eine Phase“), die zwischen gesundem Menschenverstand, dem Herz einer zupackenden Mutter und Volkes Stimme verhandelt werden, bisweilen etwas didaktisch geraten. Doch die Konfliktlagen, die in einer Familie mit einem „ADS-Kind“ ausbrechen können, sind glaubwürdig, einfühlsam und anrührend dargestellt. Dass sich die Probleme gegen Ende des Films schicksalhaft auftürmen, die Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs wandeln und somit der Fortbestand ihrer Ehe infrage steht, mag dem Unterhaltungsbedürfnis des Zuschauers geschuldet sein. Die Dramaturgie beseelt gelegentlich überdeutlich das konfliktreiche Thema. Auch der durchaus realistische Nebenstrang der vernachlässigten pubertierenden Tochter (überzeugend wie gewohnt: Stella Kunkat) wird mit Ansage in die Handlung um die Therapierung des Sorgenkinds eingeführt.
Dass die pädagogische Lenkung des Zuschauers dennoch nicht überhandnimmt – dafür sorgen die Schauspieler, die kraftvoll ihre Positionen vertreten, aber ganz besonders auch ihre Ratlosigkeit und Ohnmacht („der absolute Wahnsinn“) der Situation gegenüber deutlich machen. Die tiefsten, wahrhaftigsten Szenen des Films sind die Momente, in denen diese Familie auseinanderzufallen droht, in denen die pure Verzweiflung das Sagen hat und die Eheleute um die Wette schreien. Wer brüllt, hat selten recht. Das gilt in der Regel auch für Filme. Die Ausbrüche von Anneke Kim Sarnau und Harald Schrott aber verfehlen ihre kathartische Wirkung nicht. Sie sind Ausdruck einer Handlungskette der Verzweiflung, die zwar dramaturgisch nicht immer elegant unterfüttert wird, die aber im Spiel über jeden Verdacht erhaben ist. Vielleicht hätte „Keine Zeit der Träume“, anstatt der etwas arg durchschaubaren Familien-Konflikt-Interaktion, eine klarere (Erzähl-)Perspektive gutgetan. So hätte die MDR/ORF-Koproduktion das Korsett des Themenfilms – wie 2012 das BR-Ausnahmedrama „Zappelphilipp“ – leichter abstreifen können. Doch die Nähe zu den Protagonisten und das nuancenreiche, alltagsnahe Spiel der vier Hauptdarsteller (wunderbar beiläufig & natürlich: Greta Bohacek) macht auch aus dem klar und konzentriert inszenierten Fernsehfilm von Christine Hartmann ein überaus ehrenwertes Projekt, das sowohl mit dem Thema als auch den Haltungen aller Protagonisten ausgesprochen respektvoll umgeht.