Nach dem Hockeymatch will Anna Lehmann-Bartels noch mit ihren Teamkolleginnen feiern. Ihr Mann Micha und die beiden Kinder fahren schon nach Hause, doch statt Anna auf ihrem Fahrrad fährt einige Zeit später ein Streifenwagen vor. Anna wurde von drei Jugendlichen an einer Haltestelle überfallen und brutal zusammengeschlagen. Als sie vier Tage nach der OP aufwacht, kehren beim Blick in den Spiegel die ersten Bilder zurück. Mit einer Eisenstange, mit Schlägen und Tritten wurde sie traktiert, beraubt und auch von einem der Jungen mit einem Messer bedroht. Als Zeugin vor Gericht gibt sie jedoch an, sich an nichts mehr zu erinnern. Zwei der Jugendlichen werden zu Haftstrafen verurteilt, der dritte, der 15-jährige Marco, der bisher nicht wegen eines Gewaltdelikts aufgefallen war, zu Sozialstunden.
Der ZDF-Fernsehfilm hält sich strikt an die Opferperspektive – und darin liegt seine Stärke, aber zugleich auch seine Schwäche. Die Traumatisierung eines Gewaltopfers, dieses „Kein Entkommen“, wie es im Titel heißt, wird hier eindringlich und beklemmend erzählt. Und das nicht nur, weil uns die Kamera die Tritte ins Gesicht mit Annas Augen sehen lässt. Die berufstätige Mutter, die gemeinsam mit ihrem Mann ein Unternehmen für Innenausbau führt, hält sich für gesund und will sich gleich wieder in die Arbeit stürzen. Die ersten Panikattacken will sie nicht wahrhaben, und als sie von dem Urteil gegen die Jugendlichen erfährt, beschleunigt dies ihren Kontrollverlust. Sie ist gereizt, nicht ansprechbar, vernachlässigt die Kinder und ihre beruflichen Aufgaben. Stattdessen versucht sie, Marco doch noch ins Gefängnis zu bringen, fährt zu seiner Wohnung und nimmt Kontakt zu dessen Freundin Chrissi auf. Wenn sie von Marco geschlagen werde, solle sie Anna benachrichtigen.
Foto: ZDF / Britta Krehl
Die Besetzung mit der populären Anja Kling ist keine allzu überraschende Entscheidung, aber ihre Figur bleibt nicht nur das bemitleidenswerte, rehäugige Opfer. Anna mögen zwar automatisch alle Sympathien gehören, doch mit der Zeit verwandelt sich ihre Wut auf den jugendlichen „Abschaum“, wie sie als Zeugin vor Gericht sagt, und das ihrer Meinung nach zu milde Urteil in eine Obsession, die auch ihre Familie in Mitleidenschaft zieht. Den Kindern haben die Eltern nur erzählt, dass Anna in einen Verkehrsunfall verwickelt war, doch ihr pubertierender Sohn Jan findet die Wahrheit schnell selbst heraus. Die Spannungen in der Familie wachsen, und als Chrissi schließlich Anna zu Hause aufsuchen will und Bekanntschaft mit Jan schließt, spitzt sich die Situation zu. Im letzten Drittel des Films verändert sich die Perspektive, wird die Geschichte verstärkt auch aus dem Blickwinkel des Sohnes erzählt.
Langweilig ist dieses Familiendrama bestimmt nicht, auch wenn einzelne Szenen weniger gelungen sind. Etwa die Sitzung bei einer offenbar jedes Wort mitschreibenden Therapeutin, die nur einige floskelhafte Sätze von sich gibt („Es ist keine Schande, sich hilflos zu fühlen“). Auch das Kennenlernen und „Anfreunden“ von Anna und Chrissi erscheint etwas zu einfach konstruiert. Was aber vor allem irritiert: Drehbuch und Regie übertragen das eindeutige Täter-Opfer-Schema simpel und plakativ auf die verschiedenen sozialen Milieus und Generationen. Zum Opfer wird die vierköpfige Musterfamilie aus der gehobenen Mittelschicht, ihr Einfamilienhaus mit drei Badezimmern und großem Garten erscheint hell und einladend. Schmutzig, finster, bedrohlich dagegen der Plattenbau, aus der die Gewalt kommt.
Das sind Gegenwelten nicht nur im äußeren Wohlstand: Während Anna und Micha immer liebevoll zu ihrer niedlichen, wohlerzogenen Tochter Lina sind und nur etwas den Kontakt zum pubertierenden Jan verloren haben, herrscht in der Parallelwelt des „Abschaums“ vollkommene Lieblosigkeit. Eine kurze, denkwürdige Szene mit Marcos Mutter am Ende unterstreicht dies, und die Absicht ist überdeutlich zu erkennen. Zudem wird die Botschaft von der Verrohung der Jugend auf penetrante Weise in den Dialogen zum Ausdruck gebracht. Die Jugendlichen reden in einem durchweg aggressiven Tonfall, mit mindestens jeweils einem Schimpfwort oder mit „ficken“, „geil“ oder „Muschi“ in jedem Satz. Und die Verrohung erscheint hier wie ein Virus, der sich via Computer und Internet auch in die besseren Stadtviertel ausbreitet. Jan chattet heimlich mit Mädchen aus dem Plattenbau und spielt natürlich Ballerspiele. Eine vielsagende Szene: Chrissi überredet ihn dazu, mal draufzuhauen statt strategisch vorzugehen. Am Ende will auch Jan zu den Bösen gehören. Wer sich immer mal in seinen Vorurteilen gegen die Jugend bestätigt fühlen wollte, der wird hier gut bedient. Passend dazu informiert im Abspann ein Insert, dass fast die Hälfte der Tatverdächtigen bei gefährlicher oder schwerer Körperverletzung minderjährig oder heranwachsend sei.
Foto: ZDF / Britta Krehl
Während etwa der preisgekrönte Film „Wut“, bei dem die Wucht der in die vermeintlich heile Wohlstands-Welt einbrechende Gewalt von Unterschichts-Jugendlichen ebenfalls Thema war, eine Geschichte mit differenzierten Figuren auf beiden Seiten von Gut und Böse erzählte, trägt „Kein Entkommen“ eine Botschaft vor sich her. Und die beinhaltet auch die Kritik am angeblich zu laschen Jugendstrafrecht. Denn wäre Marco wie seine beiden Komplizen inhaftiert worden, so die Logik des Drehbuchs, wäre auch das folgende Unheil nicht eingetreten. So wird nicht einmal besonders unterschwellig suggeriert, dass Wegsperren eine Lösung sei. „Dass der eine schlechte Kindheit hatte, interessiert mich überhaupt nicht“, ruft Anna empört aus, als sie vom Urteil hört. Das ist aus ihrer Sicht nur zu verständlich, aber wenn sich Filmemacher nicht für ihre Figuren interessieren, Marco nur ein eindimensionales Monster und Jugendliche eine Schar von Außerirdischen bleiben, dann ergibt das keinen besseren Film, sondern einen schlechteren. (Text-Stand: 1.4.2014)