Das Bild nach außen muss nicht immer der Wirklichkeit entsprechen
Muss Katharina Tempel (Franziska Hartmann) einen Fehler ihres Kollegen Georg König (Stephan Szász) ausbügeln? Ist möglicherweise im Mordfall Felix Brenner (Luis Pintsch) vor einem halben Jahr schlampig ermittelt worden? Endlich soll der Haftprüfungstermin stattfinden. Doch auf dem Weg ins Gericht kann Brenner mit der Waffe eines Wachmanns, den der Untersuchungshäftling lebensgefährlich verletzte, entkommen. Die Zwillingsschwester des Flüchtigen (Phenix Kühnert) ist zugleich seine Anwältin. Ist sie in den Fluchtplan involviert? Schließlich war sie es, die ihm die Handschellen abnehmen ließ. Tempel begnügt sich nicht mit der Fahndung nach dem mutmaßlichen Mörder, sondern sie möchte sich selbst ein Bild von dem Fall machen, der zum Raubmord erklärt wurde und den Staatsanwalt Volker Tempel (Florian Stetter), Katharinas Ehemann, als schnell und effektiv aufgeklärt erinnert. Dass sich das gut situierte Opfer und der wegen Kleinstdelikten mehrfach inhaftierte Brenner seit Jahren kannten und er mit dem älteren Sohn eng befreundet war – dahinter könnte mehr stecken als ein Motiv für Raubmord. Das Bild nach außen muss nicht immer der Wirklichkeit entsprechen. Tempel weiß das nur zu gut, lebt sie doch mit einem Mann zusammen, der sehr liebevoll sein kann, ihr aber immer wieder auch mit physischer Gewalt begegnet.
Katharina Tempel erfährt tagtäglich, dass das Leben nicht schwarzweiß ist
„Was wir fürchten“ ist nach „Was wir verbergen“ der zweite Fall der neuen ZDF/Arte-Krimi-Reihe „Katharina Tempel“. Die Freundin, Staatsanwältin Golda Hopkins (Davina Donaldson), ist mittlerweile eingeweiht in das private Geheimnis der Titelfigur. Während sich der Untersuchungshäftling den Weg freischießt, hat diese mit ihrem Mann die erste Sitzung bei einer Paartherapeutin. Die häusliche Gewalt ist deutlich mehr als eine interessante private Krimi-Zugabe, sie gehört zum Kern dieser faszinierenden Frauenfigur. Mit um die 40 ist dieser Katharina Tempel nichts Menschliches fremd: Jahrelang wurde sie als Kommissarin an der Front des Verbrechens und aus gehobener Perspektive am LKA-Schreibtisch mit der kaputten Seite der Gesellschaft und der bösen Seite des Menschen konfrontiert. Außerdem ist sie Mutter, misshandelte Ehefrau – und sie weiß, ja sie spürt dadurch tagtäglich, dass das Leben nicht schwarzweiß ist. Autorin Elke Rössler („Ella Schön“, „Unter anderen Umständen“) hat damit die idealen Voraussetzungen geschaffen für eine Krimi-Reihe, die das Zeug besitzt, an die große Frauen-Krimi-Tradition im ZDF, an Reihen wie „Bella Block“, „Unter Verdacht“, „Kommissarin Lucas“ oder zuletzt „Kommissarin Heller“, mit einem zeitgemäßen Format anzuknüpfen, das sich nicht mit Business as usual begnügt.
Alltagsnah beiläufiges Spiel und emotional aufgeladene Dialog-Szenen
Die hohe Qualität der ersten beiden Filme zeigt sich unter anderem in der feinsinnigen Art und Weise, wie Berufliches und Privates, Krimihandlung und Familie-Tempel-Nebenplot miteinander korrespondieren und wie sie in zentralen Szenen ineinanderfließen. „Sie glauben wirklich daran, dass Menschen sich ändern können?“, fragt Katharina Tempel die Anwältin. „Sie nicht?“ Die Kommissarin stockt kurz, dann antwortet sie: „Doch, ich auch“. Im gleichen Gespräch stellt die Zwillingsschwester des Flüchtigen fest: „Felix hat diese zwei Seiten.“ Darauf die Kommissarin: „Ich weiß, was Sie meinen.“ Was in anderen Filmen als übertriebener Projektionszwang häufig nervt, ergibt in „Was wir verbergen“ ein stimmiges Ganzes, weil aus der Tiefe eines Charakters erzählt wird, weil solche Anspielungen knapp sind und weil Franziska Hartmann das mit dieser alltagsnah situativen Art des Drama-Spiels verkörpert, ohne künstliche Bedeutungsschwere. Nicht weniger stimmig ist die Psychologie hinter dem Mordfall, die trotz des Whodunit-Prinzips, das in der Regel den Drama-Tiefgang eines Konflikts oder Themas unterminiert, abwechslungsreich in die Geschichte integriert wird. Besonders auffallend sind ohnehin die kompakten Dialoge und Gespräche, in denen über das Gesagte hinaus immer auch die Beziehung spürbar wird, ja, sie manchmal der eigentliche „Inhalt“ der Kommunikation ist. So wird selbst noch Informationsvermittlung sexy. Wenn beispielsweise die Kommissarin und die Staatsanwältin, ihre beste Freundin, den Fall bereden, Golda von dem symbiotischen Verhältnis der Zwillingsgeschwister berichtet, über das Prinzip der „Entknastung“ oder die gängige Praxis der Justiz, selbst bei Schwarzfahren und Zahlungsunfähigkeit Gefängnis anzuordnen, ist das einerseits interessant, weil gesellschaftlich relevant, andererseits hat das Ganze durch die sympathische Nähe der Figuren nichts von einer typischen Erklär-Szene für den Zuschauer.
Alle Figuren stecken in einem dichten, stimmigen Beziehungsgeflecht
Im Kleinen spiegelt eine solche Szene das wider, was „Katharina Tempel“ auch im Großen auszeichnet. Alle Figuren, Ermittler und Staatsanwaltschaft hier, der mutmaßliche Mörder und die anderen Episoden-Charaktere dort, stehen in mehr als nur einer Beziehung zueinander. Dass sich das Drehbuch dabei kaum auf die üblichen Rollenkollisionen und Machtspiele einschießt, sondern dahingeht, wo’s wehtut, ins Persönliche und Private, ist ein weiteres großes Plus. Dieses Prinzip, um Geschichten besonders dicht zu machen, ist nicht neu, aber wird hier ähnlich perfektioniert wie in den viel zu kurzlebigen ZDF-Reihen „Schwartz & Schwartz“ (2018-2020) oder „Schwarzach 23“ (2015-2020), nur bei „Katharina Tempel“ noch etwas raffinierter und noch klarer auf den Beziehungsaspekt konzentriert. Ähnlich wie die Detailszenen ohne Ausrufezeichen auskommen, so besitzt auch diese makrodramaturgische Figuren-Interdependenz etwas Selbstverständliches, wirkt weder überkonstruiert, noch bemüht. Man sollte auch nicht ver-gessen, dass „Was wir fürchten“ bei aller Abgründigkeit, ein packender Krimi ist, bei dem es noch eine Geiselnahme gibt und ein Geheimnis, das der Kommissar und der Flüchtige miteinander teilen. Erst am Ende erkennt man so richtig, wie stimmig das Ganze (gebaut) ist.
Es gibt keine Krimi-Allerwelts-Szenen, dafür atmosphärische Bilder
Maßgeblich zum guten Flow trägt auch die außergewöhnliche Inszenierung von Jens Wischnewski („Polizeiruf 110 – Du gehörst mir“) bei, der schon einmal mit Franziska Hartmann gearbeitet hat, in der ZDF-Serie „Neuland“, was für beide einen Grimme-Preis bedeutete. In „Katharina Tempel II“ gibt es keine Krimi-Allerwelts-Szenen. Irgendetwas Besonderes ist immer zu sehen: ob das Schwarz der Nacht oder beim Showdown das Dunkel im Bauch eines Bootes, das monochrome Rot in der Dunkelkammer, ein Gesicht in Detailansicht oder Locations mit Wow-Effekt (Geld spielt bei Staatsanwälten keine Rolle) – stets gibt es einen atmosphärischen Mehrwert. Und es gibt Bilder, die als Metaphern für den möglichen Fort-/Ausgang des Ehe-Dramas stehen könnten: die innige Liebe des gewalttätigen Vaters zu seinem Sohn, die romantische Umarmung des Ehepaars inklusive des Michael-Ballhaus-Kamerakreisels, dazu der spontane finale Sprung der Heldin ins (kalte) Wasser. Und dann sind da noch die vielen Fotos, die Katharina Tempel den Weg der Ermittlungen weisen und die nach und nach etwas sichtbar machen. Filme, in denen Fotos die entscheidende Rolle spielen beim Aufklären eines Mordes oder Geheimnisses, sind nie die schlechtesten.