Katakomben

Lilly Charlotte Dreesen, Mercedes Müller, Jakob M. Erwa. Niemand ist ohne Schuld

Foto: Joyn+ / Arvid Uhlig
Foto Tilmann P. Gangloff

Die sechsteilige Joyn-Serie „Katakomben“ (Neuesuper) erzählt vom Aufeinanderprallen zweier Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Bei einem illegalen Rave unter dem Münchener Hauptbahnhof treffen verwöhnte „Rich Kids“ aus der Oberschicht auf die Bewohner der Unterwelt. Als erst ein Feuer und dann Panik ausbricht, können sich die meisten Jugendlichen in Sicherheit bringen, aber drei bleiben verschwunden. Geschickt verteilen die kreativen Köpfe hinter der Produktion, Regisseur Jakob M. Erwa sowie Koautor und Produzent Florian Kamhuber, die Erzählung auf die Perspektive mehrerer Figuren. Die zentralen Rollen sind eine Prinzessin und ihr düsterer Gegenentwurf; die beiden jungen Frauen sind mit Lilly Charlotte Dreesen und Mercedes Müller perfekt besetzt. Auch das weitere Ensemble ist ausgesprochen namhaft. Die Geschichte ist zwar in erster Linie ein Drama, aber Erwa bedient sich bei seiner Umsetzung auch bei den Genres Horror und Mystery.

Meist sind es Regisseurinnen oder Regisseure, die Qualität versprechen. In diesem Fall ist es die Produktionsfirma: Das junge Unternehmen Neuesuper hat unter anderem Serien wie „Hindafing“ (BR), „Breaking Even“ (Neo) und „8 Tage“ (Sky) hergestellt. Mit „Katakomben“ macht sich nun auch Jakob M. Erwa einen Namen; der Österreicher ist für seine Verfilmung des Jugendbuchs „Die Mitte der Welt“ (2016) bereits mit dem Bayerischen Filmpreis als Bester Nachwuchsregisseur ausgezeichnet worden. Die sechsteilige Serie, die er gemeinsam mit Koautor und Produzent Florian Kamhuber entwickelt hat, erzählt vom Aufeinanderprallen zweier Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Bei einem illegalen Rave unter dem Münchener Hauptbahnhof treffen verwöhnte Jugendliche aus der Oberschicht auf die Bewohner der Unterwelt. Was nach Horrorfilm klingt, entpuppt sich als aufklärerisches Sozialdrama, das mit den Mitteln des Thrillers eine unanständige Doppelmoral anprangert: Die bessere Gesellschaft akzeptiert die rechtsfreie unterirdische Parallelwelt, weil auf diese Weise Obdachlose und Junkies aus dem Stadtbild verschwunden sind.

KatakombenFoto: Joyn+ / Arvid Uhlig
Bei einem illegalen Rave unter dem Münchener Hauptbahnhof treffen verwöhnte „Rich Kids“ aus der Oberschicht auf die Bewohner der Unterwelt. Es folgen Feuer, Panik und Vermisste. Lilly Charlotte Dreesen und Yasin Boynuince

Schon die Gestaltung des Vorspanns ist clever: Oben entsteht in orangefarbener Neonschrift die Skyline von München, unten bildet sich in kühlem Blau eine verwirrende Verästelung; und dann wird das Unterste nach oben gekehrt. Die ersten Bilder wirken harmlos: Eine Frau hat ihr Nachtlager in einer U-Bahnstation aufgeschlagen; vorbeikommende Jugendliche verteilen ein bisschen Flitter über ihr. Aber dann wird ihr Hund unruhig: Kleine Rauschwaden steigen aus der Unterwelt empor, plötzlich strömen viele Menschen in Panik an die Oberfläche, schließlich ist alles voller Qualm; und eine junge Frau ruft verzweifelt nach ihrem Bruder. Nellie (Lilly Charlotte Dreesen, Hauptdarstellerin der ersten „Druck“-Staffeln) ist die Prinzessin der Geschichte. Sie kommt aus einer Luxuswelt, die Erwa und Kameramann Julian Krubasik in entsprechend hellen, freundlichen Farben zeigen. Nellie studiert und glaubt, sie kenne das Leben; in Wirklichkeit hat sie keine Ahnung. Ihr düsterer Gegenentwurf ist die wortkarge Tyler (Mercedes Müller), die sich als Engel der Gestrauchelten entpuppt. Sie ist eine Art Mittlerin zwischen den Welten, versorgt die Menschen mit abgelaufenen Medikamenten und kümmert sich um eine schwerkranke Mutter und deren kleinen Sohn. Nellie bittet Tyler, ihr bei der Suche nach Max (Nick Romeo Reimann) zu helfen. Der jüngere Bruder war ebenfalls auf der Party und ist seither verschwunden. Seine Freundin wird gefunden, allerdings tot; von Max und einem weiteren Jungen fehlt jede Spur.

Geschickt verteilen Kamhuber, Erwa und ihr Drehbuchteam die Erzählung auf die Perspektive mehrerer Figuren. Weitere Protagonisten sind eine erfahrene Bundespolizistin und ein junger Staatsanwalt: Magdalena Kaltbrunner (Sabine Timoteo) mischt sich immer wieder in den Fall ein; vordergründig, weil sie die Gegend rund um den Hauptbahnhof als ihr Revier betrachtet, aber tatsächlich hat sie ein sehr persönliches Interesse an den Ereignissen. Staatsanwalt Liebknecht (Yung Ngo) muss sie mehrfach darauf hinweisen, dass sie ihre Kompetenzen überschreitet, tut das aber sehr rücksichtsvoll, weil er sich trotz ihres harschen Wesens in die Polizistin verliebt hat. Und dann gibt es noch eine ganz andere Ebene, die nur mittelbar mit dem Rave und seinen Folgen zu tun hat. In der Nähe des Hauptbahnhofs soll das ehrgeizige Bauprojekt „Unity Tower“ entstehen, mit dem die junge Architektin Lisa (Marleen Lohse) ein Symbol für „vertikale Integration“ errichten will: Betuchte Mitbürger sollen für ihre Wohnungen höhere Preise zahlen, sodass mit dem Überschuss Sozialwohnungen finanziert werden können. Nellies Mutter (Aglaia Szyszkowitz) ist Baustadträtin und präsentiert vor den Kameras gern ihr großes Herz für Obdachlose, versucht jedoch, das Projekt zu sabotieren. Sie hat sich auf Geschäftspartner eingelassen, die bei ihren Methoden nicht zimperlich sind; die Vorfälle in der Unterwelt kommen ihr daher gerade recht.

KatakombenFoto: Joyn+ / Arvid Uhlig
Neuesuper. Nach „Hindafing“, „8 Tage“ und „Breaking even“ setzt die Joyn-Serie „Katakomben“ eine weitere Duftmarke in Sachen junge Genre-Serie.

Eine besondere Rolle spielt Nellies bester Freund Janosch (Yasin Boynuince), ein Influencer, der seinen Anhängern ständig Einblicke in sein aufregendes High-Society-Dasein bietet. Dabei sind seine Bling-Bling-Auftritte ein kompletter Schwindel: Er lebt mit seinem Vater (Michel A. Grimm), einem Kanalarbeiter, in einem Wohnsilo am Rand der Stadt. Und selbst das ist nicht die ganze Wahrheit: Janosch findet schließlich heraus, dass ihn mehr mit der Unterwelt verbindet, als er ahnen konnte. Mit großem Geschick verknüpft die Serie die multiperspektivische Handlung zu einer komplexen Geschichte, sodass der Wechsel der Erzählebenen nie sprunghaft erscheint. Zu Beginn jeder Folge liefern Kamhuber und Erwa neue Erkenntnisse darüber, was sich in jener verhängnisvollen Nacht ereignet hat, und es zeigt sich, dass niemand ohne Schuld ist: weder Nellie noch Tyler noch Max; und erst recht nicht die Erwachsenen. Anna Mahler entpuppt sich als ruchlos, die grimmige Polizistin Kaltbrunner trägt schwer an einem Unrecht, und selbst die soziale Lisa geht über Leichen, um ihr Ziel zu erreichen, wenn auch nicht im wörtlichen Sinn; ganz im Gegensatz zu anderen Beteiligten.

Gegen Ende ufert der Janosch-Strang etwas aus, aber ansonsten ist die Serie durchgehend fesselnd, zumal sich aus den verschiedenen Perspektiven eine reizvolle Mischung ergibt. Über allem schwebt das Vorzeichen Drama, aber Erwa bedient sich bei seiner Umsetzung auch bei den Genres Horror und Mystery. Die aufwändige Bildgestaltung ist von herausragender Qualität; Julian Krubasik war unter anderem für die bemerkenswerte Optik von Verena Altenbergers Premiere als neue Münchener „Polizeiruf“-Kommissarin verantwortlich („Der Ort, von dem Wolken kommen“, 2019). Wichtig für die Wirkung der Bilder ist auch die Musik (David Reichelt), selbst wenn sie mitunter bloß aus unmelodischen elektronischen Tonfolgen besteht. Die akustisch wirkungsvollsten Szenen sind allerdings die stillen Aufnahmen eines „Silent Rave“, bei dem die Besucher zu Musik aus dem Kopfhörer tanzen.

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Joyn

Mit Lilly Charlotte Dreesen, Mercedes Müller, Yasin Boynuince, Marleen Lohse, Sabine Timoteo, Aglaia Szyszkowitz, Yung Ngo, Nick Romeo Reimann, Daniel Friedrich, Michael A. Grimm, Lea Mornar, Reiner Schöne, Marion Mitterhammer, Gro Swantje Kohlhof

Kamera: Julian Krubasik

Szenenbild: Carina Cavegn

Kostüm: Tina Keimel-Sorge

Schnitt: Katja Beck

Musik: David Reichelt

Redaktion: Lena Wickert

Produktionsfirma: Neuesuper

Produktion: Florian Kamhuber, Korbinian Dufter, Rafael Parente

Headautor*in: Jakob M. Erwa, Florian Kamhuber

Drehbuch: Jakob M. Erwa, Florian Kamhuber, Johanna Thalmann, Romina Ecker, Sina Flammang

Regie: Jakob M. Erwa

EA: 11.03.2021 00:00 Uhr | Joyn+

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