Robert Heffler (Jürgen Vogel) ist hin- und hergerissen. Die neue, junge Kripo-Kommissarin, Kay Freund (Seyneb Saleh), brauche einen erfahrenen Partner, und Kollege Asmus (Oleg Tikhomirov) ist nach einem Unfall nicht der Richtige. Ein Notfall, hieß es. Also gut, ein paar Tage Außendienst, was tut man nicht für seine Chefin (Elisabeth Baulitz). Nur dürfen es seine drei Töchter auf keinen Fall erfahren. Heffler ist alleinerziehender Vater – und diesen „Job“ nimmt er mindestens so ernst wie seine Arbeit bei der Polizei. Vor drei Jahren war er noch beim KDD in einem Berliner Brennpunktbezirk. Nach einem tödlichen Einsatz, in den auch seine älteste Tochter Carlotta (Lea Zoe Voss) involviert war, ließ er sich nach Berlin-Köpenick versetzen, wo er als Disponent eine ruhige, familienfreundliche Kugel schob und stets genügend Zeit für seine „Mädels“ fand. Zwar gehen auch die beiden jüngeren, Sandwichkind Stella (Luna Jordan), die das meiste Verständnis für ihren Vater aufbringt, und Emmi (Bella Bading), die mit 13 zum Entsetzen ihres Vaters schon mit einem Jungen abhängt, zunehmend ihre eigenen Wege – und doch sieht Carlotta rot, als sie zufällig herausfindet, dass ihr Papa wieder Verbrecher jagt. Will der sich totschießen und die drei alleine lassen?! Hin- und hergerissen ist Heffler nicht nur wegen seiner Liebsten, sondern auch, weil er gern ermittelt.
Köpenick also. Da denkt man an Kopfsteinpflaster, den legendären Hauptmann und neuerdings an die Kicker von Union. Die erste Leiche der neuen ZDF-Serie „Jenseits der Spree“ taucht denn auch unweit von der Alten Försterei auf. Berlin-Krimi mit Kleinstadt-Flair, so der erste Eindruck nach den ersten vier einstündigen Episoden. Die Schauplätze sind abwechslungsreich, die Locations entsprechend telegen, und auch die Milieus sind vielfältig: In „Blutbande“ (1) und „Untiefen“ (3) geht es mehr in die Köpenicker Upper-Class, in „Tunnelblick“ (2) dominiert der Sozialbereich mit Erziehern, Beamten und einer Selbsthilfegruppe, und „Der letzte Trip“ (4) führt in die Welt der Dealer und psychisch Kranken. Dramaturgisch zieht sich durch alle Geschichten, dass die Verdächtigen nicht nur in ein Milieu eingebunden sind, sondern dass sie sich fast alle untereinander gut kennen: Es sind Freunde, Kollegen, Konkurrenten, Familienmitglieder, man begegnet sich in der Kita, in Therapiesitzungen oder man hat eine krisenreiche Beziehung hinter sich. Für die auf den ersten Blick handelsüblichen Krimifälle der Serie bedeutet das: Neue Informationen über eine Person können auch auf andere, in das Interaktionsnetz eingebundene Figuren ein neues Licht werfen und dem Fall rasch eine Wende und dem Whodunit Dynamik geben. Das gehört natürlich zum Autoren-Handwerk, findet sich aber in dieser neuen ZDF-Serie der im doppelten Sinne jungen Produktionsfirma Studio Zentral in beispielhafter Ausprägung.
„Jenseits der Spree“ bezeichnet die ZDF-Redaktion als einen neuen Freitagskrimi, „der die Tradition der bestehenden Formate wahrt, zugleich aber neue Impulse setzt“. Was das bedeuten kann, das offenbart sich dem Zuschauer recht bald. Die typische Struktur einstündiger Krimi-Plots, die nach einem Mörder suchen, bleibt in dieser Serie erhalten; allerdings wird in den bisherigen Fällen, denen allen ein einziger Mord ausreicht, nie ein Täter aus dem Hut gezaubert; immer gehörte er oder sie zum Kreis der Verdächtigen oder Befragten. In den ersten beiden Filmen kann sich der Zuschauer auf der Zielgeraden den Fall selbst zu Ende denken – und es kommt zu einem spannenden Finale mit der in Freitagskrimis häufigen Rettung in letzter Minute. Regie führte der Krimiserien-erfahrene Marcus Ulbricht („Kripo Bozen“, „Erzgebirgskrimi“). Die Episoden drei und vier enden eher in der Tonalität eines (Familien-)Dramas. Die Gefühle schwingen etwas länger nach. Hierfür wurde Regisseurin Neelesha Barthel verpflichtet, die neben Krimiserien vor allem Erfahrung im Dramödienfach („Zum Glück gibt’s Schreiner“, „Fritzie – Der Himmel muss warten“) gesammelt hat. „Voll schön hier“, strahlt die junge Kommissarin, high von einem Drogencocktail im Dienst, in der letzten Szene der ersten Staffel der neuen Serie. „Ja, finden wir auch“, feixt Robert zurück.
Mehr noch als die dramaturgischen Variationen der bewährten Krimimuster sind es diese kleinen Momente, die unverstellte, liebenswerte Art der Kommunikation, die „Jenseits der Spree“ zu einer besonderen ZDF-Freitagskrimi-Serie machen: Sie ergeben sich durch das Ermittler-Duo, das so verschieden ist und doch wunderbar harmoniert. Jung/alt, Frau/Mann, Single/Vater, Workaholic/Life-Work-Balance, risikofreudig/entspannt – das sind einige der Gegensatzpaare, mit denen die Beziehung der beiden aufgeladen ist. Doch in keiner der 240 Minuten hat man als Zuschauer den Eindruck, der Umsetzung einer Konzeption zuzuschauen. Die Gegensätze finden wie die psychologisch relevanten Informationen der Vorgeschichte fein nuanciert Eingang in die Geschichten, oft werden sie nur im Bild gezeigt: noch einmal der kurze Flash auf die tragische Polizeiaktion, die die älteste Tochter des Helden traumatisiert hat, ein kurzer Blick auf die Narbe des Vaters, ein Andenken von damals. Auch Biographie und Psychologie der Kollegin bleiben nur angedeutet. Warum ist sie strafversetzt worden? Weshalb ist sie mitunter so übermotiviert, dass sie schon mal im Büro übernachtet? Und was für ein Verhältnis hat sie zu ihrer Mutter, deren Kontakt sie so zwanghaft meidet (oder wird aus der Mutter in dieser Serie das, was für „Columbo“ die Ehefrau des Inspektors war?)!
Das Herzstück der Serie aber sind die beiden, die das gut An- und Ausgedachte mit Leben füllen – mit physischer Energie, mit Nähe zum Alltag und doch mit einer ganz besonderen Ausstrahlung. Für Jürgen Vogel mit der Erfahrung von 30 Berufsjahren dürfte eine solche Krimiserie keine sonderliche Herausforderung sein. Aber er reißt seine Rolle nicht einfach runter. Gerade die Szenen mit den jungen Kolleginnen erfordern besondere Aufmerksamkeit – und er als Schauspieler scheint diese Aufgabe ähnlich verantwortungsvoll anzugehen wie Robert Heffler seine Rolle als alleinerziehender Vater. Erstklassig ist vor allem das Zusammenspiel mit der weiblichen Hauptdarstellerin Seyneb Saleh. Der alleinerziehende Vater und die Kommissarin aus Leidenschaft – das öffnet Spielräume, sorgt für kleine, liebevolle Scharmützel, für Blicke und charmante Lücken, die der Zuschauer voller Freude füllen kann mit Vermutungen, sowohl die Fälle als auch das Privatleben der Kommissarin betreffend. Während nämlich der dreifache Vater wie ein offenes Buch erscheint, ist Kay, die „Kämpferin“, so die altfriesische Bedeutung des Namens, bis zum Ende der ersten Staffel auf eine bodenständige Weise dem Mythos der geheimnisvollen Frau nachempfunden.
Soundtrack (2): Nouela („The Sound of Silence“), (3): Olivia Rodrigo („Brutal“), (4): Taylor Swift feat. Bon Iver („Evermore“), The Mamas & The Papas („Dream A Little Dream of me“)
Im Presseheft verrät Saleh dagegen bereits mehr über ihre Figur: Perfektionismus und große Disziplin seien die Reaktion auf deren antiautoritäre Erziehung in einer wilden Berliner Kommune. Ein Renault 4 vor ihrer Haustür, voller Krempel, chaotisch gepackt, ist das Einzige, was man am Ende von Folge vier über Kays Mutter „erfährt“. Bei dieser Biographie fällt einem unweigerlich Seyneb Salehs erste Hauptrolle in Rudolf Thomes „Das rote Zimmer“ (2010) ein: eine junge Frau, die mit einer Freundin und einem älteren Mann eine eigenwillig-lustvolle ménage à trois eingeht. Ein hinreißende amourös-sexuelle Versuchsanordnung, die alle gesellschaftlichen Konventionen sprengt. Während ihre Kollegin, Katharina Lorenz, bald Karriere machte, suchte man Saleh vergeblich in Film und Fernsehen. Das mag daran liegen, dass ihre zahlreichen Theaterengagements zwischen 2012 und 2017 sich allein auf österreichische Bühnen erstreckten. Dann kam Netflix: Eine Hauptrolle in „Mute“ (2018) von David Bowies Sohn Duncan Jones oder in „ÜberWeihnachten“ (2019) an der Seite von Luke Mockridge waren ein Anfang in eher enttäuschenden Produktionen. Da kommt „Jenseits der Spree“ gerade recht – und im November gibt Saleh bereits ein Gastspiel in der Top-Reihe „Dengler“. Weitere Qualitätsfilme werden folgen, ganz sicher. Mit ihrem Augenspiel, diesem süffisanten Lächeln, aber auch mit den leisen Tönen, der sensiblen Annäherung an dramatische Momente oder ihrer köstlichen Auf-Drogen-Nummer ist sie die Überraschung dieser Serie. Ein Hingucker mit schauspielerischer Klasse. (Text-Stand: 1.9.2021)