Schon die ersten Szenen haben es in sich. Wer nur einmal die innerdeutsche Grenze mit dem eigenen Pkw passiert hat, ist sofort wieder in dem Film von damals: Betonbauten, bedrohliche Überwachungsanlagen, Grenzsoldaten mit Kalashnikovs, kalte Blicke in Richtung Klassenfeind, Schikanen und immer die Angst, etwas falsch zu machen, die falsche Spur, ein falsches Wort: Ohnmacht! Heike und Ulrich Molitor sind in einer sehr viel prekäreren Situation. Das Ehepaar aus der DDR will sich im Jahr 1974 mit seinen beiden Kindern in die Bundesrepublik absetzen. Doch die Sache geht schief. Sie werden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Es gibt nur eine Möglichkeit, dem Stasi-Knast zu entgehen. Wenn sie ihre Tochter zur Adoption freigeben, dürfen die Molitors mit ihrem Sohn in den Westen ausreisen.
„Jenseits der Mauer“ ist nicht der soundsovielte Film über die letzten Tage der DDR. Zwar spielt der Großteil der Handlung in den letzten Monaten vor dem Mauerfall, aber das TV-Drama von Holger Karsten Schmidt und Friedemann Fromm hat sich eine sehr spezielle Geschichte zweier Familien herausgegriffen, die vom DDR-Regime manipuliert und instrumentalisiert werden. Schnittpunkt der West- und Ostfamilie ist Rebecca. Sie ist die leibliche Tochter der Molitors, die sie als Dreijährige nach dem gescheiterten Fluchtversuch in der DDR zurücklassen mussten. Sie ist in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen. Und doch scheint ihr – wie vielen anderen auch – die DDR langsam zu klein zu werden. Ihre leiblichen Eltern wurden über die Jahre mit liebevollen Briefen ihrer Tochter von der Stasi „versorgt“ und sie durften ihrer Miriam sogar selber schreiben. Für diese und andere „Vergünstigungen“ spioniert Heike Molitor ihren Ehemann Ulrich aus, der an der Konstruktion von Militärflugzeugen beteiligt ist. Rebecca indes weiß nichts von ihrer wahren Identität. Bis eines Tages die Kinderheimleiterin die Farce mit den Briefen beendet.
Foto: WDR / Julia Terjung
Dem 90-minütigen Fernsehfilm, der sich wohltuend von der Großspurigkeit vieler Zeitgeschichts-Movies abhebt, gelingt das seltene Kunststück, individuelle Geschichte und Historie stimmig ineinander fließen zu lassen. Auf den ersten Blick hat sich der Film allerhand aufgeladen: Zwangsadoption, Leute, die abhauen wollen, über die Mauer, über Ungarn, Schüsse an der Mauer, angedeutete Brüche in den Familien, die menschenverachtenden Praktiken der Staatssicherheit, deren langer Arm bis in den Westen reicht. Doch nie hat man den Eindruck, das auf diese Art und Weise schon gesehen zu haben. Schmidt und Fromm deuten Vieles an, einige Nebenstränge erzählen sie aus – fokussieren aber die Geschichte zunehmend auf das Schicksal ihrer jungen Heldin. Sie ist das Zentrum der Anteilnahme.
Henriette Confurius, das Jungtalent mit der typischen Gesicht-als-Spiegel-der-Seele-Note, überzeugt nach „Die Wölfe“ zum zweiten Mal in diesem Jahr in einer historischen Hauptrolle. Aber auch die „Erwachsenen“ bieten Drama von höchster psychologischer Glaubwürdigkeit: jede Szene eine emotionale Ausnahme-Szene. Edgar Selge und Katja Flint als die Molitors, ein Paar an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Bodenständig dagegengesetzt sind Ulrike Krumbiegel und Herbert Knaup, der seinen Vernehmungsoffizier mit menschlichem Antlitz spielt.
„Jenseits der Mauer“ erzählt eine emotionale Geschichte: es ist die Suche nach der individuellen Vergangenheit. Dieses Schicksal zieht einen hinein in die letzten Tage der DDR, ohne einem die immergleiche Geschichte in den immergleichen Event-Movie-Bildern zu erzählen. Durch die Perspektive der beiden Familien auf den Horizont der Zeit ist der Film auch „eine große Parabel auf die Wiedervereinigung“ (Fromm). „Mauermüdigkeit“ kommt bei dem Film nicht auf. Und die Zeitstimmung in der DDR scheint auch gut eingefangen zu sein. „Man befand sich im Strudel der Geschichte“, so Ulrike Krumbiegel. „Es war damals eine Situation, in der man nicht wusste, wie es weitergeht. Diese Gefühlslage beschreibt der Film sehr genau.“ Die Schauspielerin ist im Übrigen die einzige Hauptdarstellerin aus dem Osten. Dass der Film – wie so viele andere Wendedramen – von „Wessies“ gemacht wurde, stört sie nicht: „Ich finde es schön, dass sich die West-Autoren heute für die DDR-Geschichte interessieren. Zu DDR-Zeiten war es ja so, dass der Osten nur nach Westen gestarrt hat.“
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