In „Jeder Mensch braucht ein Geheimnis“ gibt es eine Rückblende, in der das reife Ehepaar Luise und Helmut im Takt italienischer Straßenmusikanten mitten auf der Piazza ein gemeinsames Tänzchen wagen. Das sieht fast verliebt aus. Doch der Alltag bei den Lürzers ist ein anderer. Eine solche Lockerheit gesteht sich die Hausherrin nicht zu. Dabei sehnt sich ihr ein paar Jahre jüngerer Mann so sehr nach Veränderung. Er hat ihren ständigen Kontroll-Unterton satt, oder diese abschätzigen Blicke, die sie aller Welt zuwirft, und besonders diese ewigen verbalen Spitzen. Und so geht er eines Tages. Er sagt nicht: Ich bin dann mal weg. Nein, er macht sich während eines Familienfests vom Acker und bleibt tagelang spurlos verschwunden, bis ihn seine entrüsteten Kinder in Italien ausfindig machen, wo er sich mit neuer Frau seinen Lebenstraum verwirklichen möchte: der Mann, der sich zur akademischen Laufbahn genötigt sah, wollte eigentlich Tischler werden.
Hannelore Hoger spielt jene kontrollsüchtige Mittelstands-Domina mit Hang zum Bourgeoisen, wie sie im dicken Buche der Mythologie der bürgerlichen Ehe immer wieder zu finden ist. Dietmar Mues gibt den Ehemann, der so lange still gehalten hat. Mit Bergwanderungen hat sich der frühpensionierte Schuldirektor in den letzten Jahren seine Freiräume geschaffen. Als er wieder einmal einen Gipfel erklommen hatte, tat er den Schwur, ein Jahr lang den Ort in Italien nicht zu verlassen. „Ich hab’s dem Herrgott versprochen“, sagt er dem nachgereisten Sohn. Dieses Bild spricht Bände. Es bedarf eines Schwurs und der Allmacht des Herrn, um sich aus den Fängen von Ehefrau Luise zu befreien. Ein Jahr lang mal das letzte Wort haben!
Im Film des Österreichers Wolfram Paulus gibt es weder Buhmann noch Buhfrau. Zwei Menschen mit sehr unterschiedlichen Ansprüchen ans Leben haben sich 30 Jahre lang zusammen gerauft und erkennen nun, dass es bessere Optionen für jeden der beiden gibt. Der Mann macht ausnahmsweise den ersten Schritt. Zwar steckt Luise anfangs voller Wut, breitet des Nachts den Schlafanzug des Abgängigen im Ehebett neben sich aus, um zornig auf ihn einzuschlagen. Doch weshalb sollte man nicht mit Anfang 60 noch einmal etwas Neues, etwas Ungewöhnliches wagen? Alter schützt vor Einsicht nicht und vor Glück schon gar nicht. Paulus ist Spezialist auf diesem Gebiet. Unter seiner Regie schlüpfte Christiane Hörbiger in „Mathilde liebt“ in die Rolle einer Witwe, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Orgasmus erlebt. Beiden Filmen gemeinsam ist die Selbstverständlichkeit, mit der rigide Verhaltensmuster und eingespielte Beziehungsrituale in Frage gestellt werden.
Viel Wahrheit mit wenig Worten, ist ein Prinzip des Films. Auch wenn die Kinder sich aktionistisch geben und sich „die Goschen“ über den Papa zerreißen in dieser deutsch-österreichischen Koproduktion, bei den Anti-Rosenkriegern muss man nur hinschauen, um zu verstehen. Wie da die Hausherrin in den Eingangsszenen thront, Geschichten auf Kosten anderer erzählt, um sich im Schmunzeln der Gäste zu sonnen, während der Ehemann den Mundschenk spielen muss – das sagt viel über die Beziehung. Der Qualität des klassisch guten Drehbuchs stehen die Schauspieler in nichts nach. Wie Hannelore Hoger mit kleinen Gesten, dem ungeduldigen Getrommel der Finger, einem mehrdeutigen Blick oder dem Unterton, mit dem sie ihrer Luise die Worte in den Mund legt, die Mentalität und Gefühlslage ihrer Figur beiläufig andeutet, das ist großartig. Da kann sich Paulus große Inszenierungskunst sparen und sich ganz am Alltag seiner Protagonisten orientieren. (Text-Stand: 6.1.2010)