Whitechapel, 1888: Anna Kosminski (Sonja Gerhardt) sucht den Neuanfang in London. Doch was für ein Alptraum erwartet die junge Fotografin hier: die Mutter verstorben und ihr Bruder Jakob (Vladimir Burlakov) in einer Irrenanstalt! Grund: Er soll ein fünffacher Prostituiertenmörder sein, der sich Jack the Ripper nennt. Seinen Opfern schneidet er die Kehle durch, er verstümmelt sie und weidet sie aus. Zuletzt wurde die übel zugerichtete Leiche der Prostituierten Mary Jane Kelly in Jakobs Bett gefunden. Für die Polizei war er damit überführt. Anna erkennt, dass sie die einzige ist, die Jakob helfen kann – also taucht sie nach und nach in dessen privates Umfeld ein: Wie einst ihr Bruder findet sie eine Bleibe und Arbeit bei dem zwielichtigen Polizeifotografen Samuel Harris (Nicholas Farrel) und freundet sich mit David Cohen (Sabin Tambrea) an, der mit Jakob vor dessen Verhaftung an einem neuen Medium forschte – dem Bewegtbild. Bald gerät Anna selbst ins Visier des Killers und erhält unheimliche Todesdrohungen. Für Chief Inspector Ronald Briggs (Peter Gilbert Cotton) ist das nicht ausreichend, um Jakobs Unschuld zu beweisen. Auch die Polizei hat unzählige Briefe von Trittbrettfahrern bekommen – viele wollen offenbar etwas vom Ruhm des Schlitzers abkriegen. Während Briggs weiterhin abweisend ist, bietet ihr der junge Inspector Frederick Abberline (Falk Hentschel) Schutz und Hilfe an. Auch er glaubt, dass Jakob nicht der Ripper ist, und er befürchtet, dass sich der Richtige als nächstes Opfer Anna ausgeguckt haben könnte. Die ist darüber eher beglückt – und sie möchte den Köder geben.
Foto: Sat 1 / Algimantas Babravicius
Nach der „Wanderhuren“-Trilogie, den beiden „Hebammen“-Mystery-Movies, dem Western „In einem wilden Land“ und 2015 „Mordkommission Berlin 1“, dem Krimi, der den deutschen Vater der Kriminalkommissare ehrt, wagt sich Sat 1 mit seinem 2016er History-Event-Movie nun an einen anderen Mythos der Kriminalgeschichte: den Schlitzer von London. „Jack the Ripper – Eine Frau jagt einen Mörder“ sucht Anleihen beim historischen Gruselkrimi mit dezenten Blutrünstigkeiten. Für Fans des Genres ist der Untertitel der Haken – und der 20.15-Uhr-Termin, der einer FSF-Freigabe ab 12 Jahren gleichkommt. Denn wer ernsthaft die Geschichte von dem grausamen Prostituiertenmörder erzählen will – der muss in Abgründe blicken, den Schrecken physisch spürbar und die Gewalt ein gutes Stück sichtbar machen. Das alles aber funktioniert nicht mit dem Blick aufs frauenaffine Familienprogramm und die Primetime: Die letzten Verfilmungen des Stoffs, „From Hell“ (2001) mit Johnny Depp und die Serie „Whitechapel“ (seit 2009), sind denn auch entsprechend freigegeben ab 16 Jahren.
Dieses Dilemma sieht man dem Sat-1-Film 100 lange Minuten an. Eine Frau zur Heldin, zur Rächerin ihrer Geschlechtsgenossinnen – wenn auch ohne emanzipatorisches Bewusstsein – zu machen, ist keine schlechte Idee. Dass es aber wieder einmal so ein junges Hascherl sein muss, ist zu viel Kalkül. Nach Alexandra Neldel, Josefine Preuß und Emilia Schüle soll es nun das neue Fräuleinwunder Sonja Gerhardt richten, nachdem dem Traum-Trio Mücke/Moretti/Traue letztes Jahr kein Quotenerfolg beschieden war. Doch so gut und passend besetzt sie in „Ku’damm 56“ auch war, so unpassend marschiert sie hier, die Röcke forsch gerafft und das Haar stets frisch onduliert, mit der immergleichen trotzigen Entschlossenheit durch die litauische Studio-Matsche. Dieses Mauerblümchen-Kontrastprogramm mit der ganzen melodramatisch überzogenen Bruder-Rettungsarie ist der falsche Gegenentwurf zu Jack the Ripper und Gerhardt außerdem die falsche Besetzung. So viel zur Grundkonzeption.
Foto: Sat 1 / Algimantas Babravicius
Das Drehbuch stammt immerhin von einem der besten, allerdings auch fleißigsten deutschen Drehbuchautoren, Holger Karsten Schmidt. Ein Könner ist im leicht gebrochenen Genrefach. Mit zwei guten Ideen hat er den Stoff wesentlich bereichert: die aktive Einbindung der in den Kinderschuhen steckenden Kinematographie in die Geschichte erweist sich gerade in Verbindung mit der Mythologisierung von Jack the Ripper und dessen gesellschaftlicher Funktion, dem zweiten zentralen Anliegen Schmidts, als überaus gelungen. Diese beiden Ideen erhöhen den Schauwert und verdichten ein wenig den Subtext der ansonsten sehr schlichten Handlung, zur Dramaturgie tragen sie aber nur wenig bei. Dieses typische Eine-Frau-geht-ihren-Weg-Szenario, das kaum komplexer ist als die Selbstfindungsgeschichten der 00er Jahre, entspricht längst nicht mehr den heutigen Ansprüchen ans populäre Filmerzählen.
Dass Schmidt die tragenden Nebenfiguren nicht weiter ausschmückt, hat einen guten Grund: Die Gefahr wäre, dass sich aus Annas Männerreigen der potenziellen Schlitzer einige zu früh verabschieden könnten, was der Spannung nicht gut tun würde. Ausnahmsweise hätte hier eine weitere „verdächtige“ Figur dem Suspense nicht geschadet. Die Spannungskonstruktion ist ohnehin ein Drahtseilakt, der sich nur mit einigen konventionellen Tricks und den üblichen zuschauerorientierten Gruselszenen über die 100 Minuten rettet. Vieles, was der Handlung an Nervenkitzel fehlt, holt der Film – irgendwo zwischen old fashioned Kammerspiel-Crime und Serienkiller-Trash – geballt im Finale nach. Von unterschiedlicher Qualität sind auch Look und Szenenbild: Je dunkler das Bild, je düsterer die Stimmung, umso atmosphärischer das Ganze. Hingegen verlässt einen bei den helleren Einstellungen die Illusion; kommen dann auch noch Totalen ins Spiel, beispielsweise Häuserfronten die bis in den Hintergrund verlaufen, sieht man nur noch die Ausstattung. Für Massenszenen gilt Ähnliches. Die Auflösung ist zumeist nicht kleinteilig genug, und so sieht es oft nach Studio aus, hat aber leider so gar nichts vom Vintage-Studio-Charme alter Hollywood-Filme. Je konzentrierter das Szenenbild, je enger die Einstellungsgrößen und je präsenter die Darsteller, umso ansehnlicher sind die Szenen für den Zuschauer. Nur leider ist dem steifen britischen Stil der besseren Leute und den Whitechapel-Klischeefiguren sehr wenig Physisches abzugewinnen. Fazit: So ehrenwert der Versuch, einen Krimi-Thriller im historischen Gewand zu erzählen und so clever die Bewegtbild-Idee, so stereotyp sind Dramaturgie & „Heldinnenreise“. Aber auch filmästhetisch, konzeptionell und besetzungstechnisch ist „Jack the Ripper – Eine Frau geht ihren Weg“ unausgegoren.