In Wahrheit – Still ruht der See

Christina Hecke, Kowalski, Goursaud, Göckeritz, Alexandre. „Willkommen im Ghetto“

Foto: ZDF / Martin Valentin Menke
Foto Harald Keller

Der dritte Film der Saarland-Krimi-Reihe „In Wahrheit“ führt in eine Ortschaft an der deutsch-französischen Grenze, die einst für Bergarbeiter errichtet worden war und seit Ende des Kohleabbaus einen mählichen Niedergang erlebt. Hier wird ein Sechzehnjähriger ermordet aufgefunden. Unter Gleichaltrigen war er ein Außenseiter, tat nicht mit bei ihren grausamen Spielen. Liegt dort das Motiv? Für Kommisssarin Judith Mohn ein Fall mit unerfreulichen Begleiterscheinungen; sie ist in dem Viertel aufgewachsen und hat es einst im Zorn verlassen. „Still ruht der See“ (ZDF / Network Movie Hamburg) ist der bislang beste Film der neuen Reihe – es ist ein sensibel und hintergründig bebildertes, milieusicheres Krimidrama.

In gleitendem (Drohnen-)Flug geht es – wie so häufig in deutschen Krimi-Fernsehen – zu Beginn von „In Wahrheit – Still ruht der See“ über dichte Wipfel. Regisseur Miguel Alexandre aber, der auch die Kamera führte, setzt nicht auf Kein-schöner-Land-Ästhetik; das Waldgebiet endet jäh an einer steilen Klippe. Fast eine Metapher. Ein Menetekel. Unten ein See, zwar still, aber eher beunruhigend als einladend. Schon erfolgt ein Schnitt unter die Wasseroberfläche. Eine Hand, ein Arm – der Kopf einer treibenden Leiche. Im nächsten Bild läuft eine Frau durch die Straßen der Bergarbeitersiedlung, ist verzweifelt auf der Suche nach ihrem Sohn Marlon … Auch die nächste Sequenz führt an ein Gewässer. Hier sucht Kommissarin Judith Mohn (Christina Hecke) Entspannung, bei einem Angelausflug an der Seite ihres pensionierten Vorgängers Markus Zerner (Rudolf Kowalski), der wegen eines unaufgeklärten Entführungsfalls – Thema des Pilotfilms „Mord am Engelgraben“ (2017) – den Dienst verlassen hatte. Es kommt zu einer Szene dezenter Symbolik: Mohn hatte sich von Zerner ein rustikales, kariertes, wärmendes Hemd geliehen, er schenkt es ihr: Sie schlüpft in seine Haut.

In einer ehemaligen Bergarbeitersiedlung nahe der französischen Grenze wird ein 16jähriger Junge vermisst. Die Brandmanns wohnen, auch das kann metaphorisch verstanden werden, am Ende einer abschüssigen Sackgasse. „Willkommen im Ghetto“, witzelt Mohns Kollege Freddy Beyer (Robin Sondermann) und fängt sich einen strafenden Blick ein. Auch ist die Kommissarin nicht sonderlich angetan, dass er eine weitere Kollegin, die jugendliche Minirockträgerin Lisa (Jeanne Goursaud), mitgenommen hat. Der scheint anfangs nur der Part der attraktiven Lückenbüßerin zugedacht, aber die Filmfigur gleich wie ihre Darstellerin wissen sich im Ensemble arrivierter Kräfte bald zu behaupten. Mohn ist angespannt, zögert beim Aussteigen. Der Hinweis einer Nachbarin führt sie zum See. Kathrin Brandmann (Bernadette Heerwagen) ist vor ihnen dort, hat ihren Jungen bereits gefunden. Die Polizisten können nur noch bei der Bergung behilflich sein und die untröstliche Mutter betreuen.

In Wahrheit – Still ruht der SeeFoto: ZDF / Martin Valentin Menke
Eine traumatische Situation. Die Mutter Kathrin Brandmann (Bernadette Heerwagen) hat ihren toten Sohn vor der Polizei gefunden. Christina Hecke, Robin Sondermann

Die Kriminalermittler nehmen ihre Arbeit auf. So langsam erklärt sich Judith Mohns Unbehagen. Sie ist in der Nachbarschaft aufgewachsen und einst im Zorn gegangen. Ihre Mutter (Steffi Kühnert), die ihr aus Egoismus und falschem Standesdenken eine Karrierechance vorenthielt, lebt noch immer in der heruntergekommenen Siedlung. Mutter und Tochter haben seit Jahren nicht miteinander gesprochen. Auch mit ihrem Cousin Mischa (Antonio Wannek) bekommt die Kommissarin zu tun. Der präpotente Bengel ist wegen schwerer Sachbeschädigung, gefährlicher Körperverletzung und Einbruchs vorbestraft. Er verbüßt eine Bewährungsstrafe, trägt eine Fußfessel, scheint trotz allem erneut in trübe Machenschaften verwickelt. Er gehört einer Clique grausamer Jugendlicher an, die die gefühlte Aussichtslosigkeit mit Alkohol, Sex-Eskapaden und krimineller Geschäftemacherei bekämpfen. Schwache werden gemobbt und geben die Gewalt an noch Schwächere weiter.

Beim dritten Film der Reihe „In Wahrheit“ zeichnen, wie schon beim Pilotfilm „Mord am Engelsgraben“, Harald Göckeritz und Miguel Alexandre für das Drehbuch verantwortlich, Alexandre zudem für Bildgestaltung und Inszenierung. In diesem Fall ein glückliches Zusammenspiel. In fein ziselierten Bildern und durchdachten Szenen wird eine Siedlungsgemeinschaft erfasst, deren Angehörige den Anschluss verloren haben oder dies zumindest so empfinden. Da die Bilder schon für sich so viel erzählen, können die Dialoge knapp und ungekünstelt und damit lebensnah gestaltet werden. Die Rückkehr der Kommissarin in die alte Heimat ist in diesem Zusammenhang kein Versatzstück aus dem Krimibaukasten, sondern passt in das Erzählgeflecht. Sie hat den Absprung geschafft, gegen erhebliche Widerstände und auf Umwegen. Für die Mutter kein Grund zur Freude. Sie verbringt den Tag vor dem Bildschirm und guckt Glücksspielsender, die Tochter hat keinen Fernseher, arbeitet den ganzen Tag. Für die Mutter ist sie damit „etwas Besseres“.

Die Motive werden variiert und gespiegelt, die elterlichen Erziehungsfehler, das jugendliche Fehlverhalten, die Furcht, als Außenseiter abgestempelt zu werden. Rein aus der Handlung heraus erklärt sich, warum Judith Mohn zu Zerner eine Art Tochterbeziehung entwickelt. Das zeigt sich erneut am Schluss. Mohn muss zunächst hinnehmen, dass zwar dem Recht Genüge getan wird, nicht aber ihrem Gerechtigkeitsempfinden: Die Seelenlosen kommen straflos davon, die Sensiblen werden zu Opfern. Trost findet Mohn abermals bei Zerner. Er hatte mit seinen persönlichen Beziehungen zu den Ermittlungen beigetragen; im Gegenzug versprach sie ihm, ihm bei der Gartenarbeit zu helfen. Das tut sie auch, sucht Entspannung in der Erschöpfung. In der Arbeitspause probiert sie frisch gepflückte Brunnenkresse. Die Erinnerung an die Geschmackserlebnisse ihrer Kindheit söhnt ein wenig aus mit dem, was ihr als junger Frau widerfuhr. Der letzte Satz gehört Zerner: „Soll ich Salat machen?“ Ein Finale des sanften Mitempfindens, das nicht überdramatisiert, sondern die Stimmung hält wie den Hall eines Saiteninstruments. So gelungen wie der gesamte Fernsehfilm.

In Wahrheit – Still ruht der SeeFoto: ZDF / Martin Valentin Menke
Zurück in der Heimat. Judith (Christina Hecke) konfrontiert die Clique um Number Six (Rafael Gareisen): Warum scheint Marlons Tod Nesrin (Devrim Lingnau), Nick (Pablo Grant), Jenny (Line Keller) und Ahmed (Skandar Armini) so egal zu sein?

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Reihe

Arte, ZDF

Mit Christina Hecke, Rudolf Kowalski, Robin Sondermann, Jeanne Goursaud, Matti Schmidt-Schaller, Devrim Lingnau, Bernadette Heerwagen, Gerdy Zint, Steffi Kühnert, Rafael Gareisen, Antonio Wannek, Livia Matthes

Kamera: Miguel Alexandre

Szenenbild: Andreas Rudolph

Kostüm: Helmut Ignaz Meyer

Schnitt: Marcel Peragine

Musik: Wolfram De Marco

Redaktion: Olaf Grunert

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke

Drehbuch: Harald Göckeritz, Miguel Alexandre

Regie: Miguel Alexandre

Quote: ZDF: 7,14 Mio. Zuschauer (19,9% MA)

EA: 19.04.2019 20:15 Uhr | Arte

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