In den Gängen

Franz Rogowski, Sandra Hüller, Thomas Stuber. Die Liebe und der Großmarkt

Foto: MDR / Warner Bros.
Foto Tilmann P. Gangloff

Nach dem Drama „Herbert”, das dieses Jahr im Rahmen ihrer Reihe „Filmdebüt im Ersten“ ausstrahlt(e), hat Thomas Stuber dem Leben eine weitere Geschichte abgeschaut. Die tiefenentspannte Alltagsromanze „In den Gängen“ erzählt mit poetischem Realismus vom kleinen Glück und der Kunst, ein Flurförderfahrzeug zu führen. Wie schon in „Herbert“ hat der Regisseur seine Schauspieler wieder zu meisterlichen Leistungen geführt. Dort war es Peter Kurth, der beim Deutschen Filmpreis gewürdigt würde, diesmal ist Franz Rogowski ausgezeichnet worden. Kurth wirkt als väterlicher Freund der Hauptfigur ebenfalls wieder mit; Dritte im Bunde ist Sandra Hüller. Das Drehbuch, erneut gemeinsam von Stuber und Clemens Meyer geschrieben, erzählt von den Wahlverwandtschaften im Mikrokosmos Großmarkt: Christian, der „Frischling“ aus der Getränkeabteilung, verliebt sich in Marion (Süßwaren), aber erst einmal gilt es, eine Beziehung zum Gabelstapler aufzubauen.

Eine der berühmtesten Szenen der Filmgeschichte wäre ohne die musikalische Untermalung nur halb so wirkungsvoll: Zu den Klängen des Johann-Strauß-Walzers „An der schönen blauen Donau“ inszeniert Stanley Kubrick in seinem Science-Fiction-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968) ein Raumschiff, das an eine Raumstation andocken soll, wie einen Pas de deux. Thomas Stubers Film „In den Gängen“ beginnt mit einer ähnlichen Szene; hier ist es allerdings kein Raumschiff, das den Tanz vollführt, sondern ein Gabelstapler, der in einem riesigen Supermarkt einsam seine Runden zieht. Auch die langen Einstellungen, mit denen Stubers Kameramann Peter Matjasko die Gänge zwischen den Regalen zeigt, erinnern an die Bilder, mit denen Kubrick vor fünfzig Jahren den Standard für Raumfahrtfilme gesetzt hat.

Soundtrack:
Johann Strauß („An der schönen blauen Donau“), Son House („Grinnin’ in your Face“), Timber Timbre („Trouble Comes Knocking“, „Moment”), Son Lux („Easy”)

Ansonsten aber erzählen Stuber und sein Koautor Clemens Meyer, auf dessen gleichnamiger Kurzgeschichte das Drehbuch basiert, eine ganz und gar irdische Geschichte, die Stuber geradezu tiefenentspannt umgesetzt hat, weshalb die gut 120 Minuten eine regelrecht kontemplative Wirkung haben; wer das nicht zu schätzen weiß, wird den Film streckenweise allerdings als zu lang empfinden. Die Autoren nutzen einen Großmarkt als Mikrokosmos; abgesehen von einigen kurzen Ausflügen spielt sich die Handlung größtenteils in der Tat in den Gängen ab. Sie beginnt mit dem ersten Arbeitstag von Christian (Franz Rogowski), den Marion (Sandra Hüller) auch nach Monaten noch hartnäckig „Frischling“ nennt. Er nimmt es hin, weil es ihn auf Anhieb erwischt hat, als er die Kollegin aus der Süßwarenabteilung bei der Arbeit beobachtet hat. Sie beherrscht, was er noch lernen muss: das Führen eines Flurförderfahrzeugs. „In den Gängen“ ist zwar eine Alltagsromanze, die Stuber dem Leben abgeschaut hat, aber mitunter wirkt der Film, als habe der Regisseur ihn als Hommage an die Gabelstaplerfahrer dieser Welt konzipiert. Ungekrönter König des Großmarkts ist daher zumindest aus Sicht Christians sein Getränkepartner Bruno (Peter Kurth), denn der bedient das Gefährt mit traumwandlerischer Sicherheit. Auch sonst scheint Bruno, der eine ausgesprochen ruhige Kugel schiebt, alles im Griff zu haben. Er verschwindet regelmäßig für eine „Fuffzehn“ (Zigarettenpause) oder um mit einem Kollegen (Matthias Brenner) in dessen Kabuff eine Runde Schach zu spielen; Christian nimmt er fast liebevoll unter seine Fittiche. Für Kurth, der den Titelhelden in Stubers Boxerdrama „Herbert“ ausgesprochen wortkarg verkörpert hat, ist Bruno, der seinem früheren Leben als Fernfahrer nachtrauert, eine fast schon geschwätzige, wenn auch nicht minder tragische Rolle; aber das zeigt sich erst viel später. Über weite Strecken ist „In den Gängen“ ähnlich ruhig unterwegs wie Bruno mit seinem Gabelstapler.

In den GängenFoto: MDR / Warner Bros.
Der „Frischling“ (Franz Rogowski) und der ungekrönte König des Großmarkts, der Getränkepartner Bruno (Peter Kurth)

Kritiken zur Uraufführung bei der Berlinale 2018:

Diesen Mut, diese erzählerische Kraft und diese filmische Vision muss man erst mal haben, eine Liebesgeschichte fast ausschließlich in der von kaltem Neonlicht beleuchteten Welt eines Großmarktes anzusiedeln. Stuber wählt immer wieder einen weiten Bildausschnitt, der die streng geometrische Anlage des Handlungsraumes betont. Das ist der Rahmen, in denen sich Bruno, Marion, Christian und die anderen bewegen. (Berliner Zeitung)

„In den Gängen“ ist ein zärtlicher, ein komischer, ein präziser Film. Ein Film, dem die Routinen und die Rituale dieser Arbeitsumgebung wichtig sind, der sich ihnen respektvoll nähert und sie doch für seine Zwecke benutzt. „In den Gängen“ ist ein Ost-Film. Peter Kurth stammt aus Mecklenburg-Vorpommern, Sandra Hüller aus Suhl, Thomas Stuber aus Leipzig, sein Drehbuchautor Clemens Meyer aus Halle; der Freiburger Franz Rogowski könnte problemlos als Ehren-Ossi durchgehen. Es ist kein auffälliger Ost-Film, eine mit Geldern für die deutsche Einheit ausgebaute Autobahn führt an dem Großmarkt vorbei, und Kurth berichtet, wie er früher für einen VEB Lastwagen fuhr, seine Firma pleiteging, der Großmarkt sich an ihre Stelle setzte. Wo er jetzt wieder Waren hin und her fährt. Es ist, soziologisch betrachtet, die Umkehr des Fernweh-Mythos der eingemauerten DDR-Bürger. Vom Kapitän der Landstraße zum Kapitän der Regalgassen, so lautet die Bilanz der Wiedervereinigung für die Kurth-Figur. (Welt online)

Die Zeit-, Leih- und Lagerarbeiter sind die Sklaven der modernen Arbeitswelt, kaum qualifiziert, universell austauschbar, beschäftigt auf Widerruf. „In den Gängen“ implantiert ihr gleichsam eine fremde Seele, die Seele von Menschen, die es noch immer gibt, und setzt damit wie beiläufig der Arbeitswelt der DDR ein Denkmal, ihrer Grundsolidarität. Lobende Erwähnung verdient auch ein großer Nebendarsteller, oder ist er gar ein Hauptdarsteller: der Gabelstapler, sehr komisch und bedrohlich zugleich. Und manchmal, wenn man ihn ganz aus- und dann sehr langsam wieder einfährt, klingt er wie ein Meer und ein Strand. (Tagesspiegel)

In den GängenFoto: MDR / Warner Bros.
Christian (Franz Rogowski) und die Kollegin aus der Süßwarenabteilung (Sandra Hüller). Der Gabelstaplerfahrer ist hin und weg.

Stuber und Meyer haben ihre 2015 mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Geschichte episodisch strukturiert. Als Kapiteltrenner dient jeweils eine kurze Schnittfolge, wenn Christian zu Schichtbeginn seinen Arbeitskittel überstreift. Das Drama ist in drei Akte unterteilt, die die Namen der Hauptfiguren tragen, doch im Zentrum der Handlung steht stets Christian, der die Ereignisse gelegentlich aus dem Off ergänzt und sich zum Beispiel darüber wundert, warum Marion schon länger nicht mehr zur Arbeit erschienen ist. Seine sympathisch unbeholfenen Annäherungsversuche scheinen ihr zu gefallen, was bei den Kollegen rasch die Runde macht, aber Marion ist verheiratet; wenn auch nicht glücklich, wie es heißt. All’ das schildert der Film mit fast schon provokanter Beiläufigkeit. Wenn Marion den neuen Kollegen fragt, was er bisher gemacht habe, und Christian was von „Bau“ nuschelt, vermittelt Stuber auf meisterlich subtile Art, dass Marion „Baustelle“ verstehen soll, aber möglicherweise eine andere Art von Bau gemeint sein könnte. Wie schon „Herbert“, so mutet auch der poetische Realismus von „In den Gängen“ gerade durch die Bildgestaltung und den Verzicht auf eigens komponierte Musik fast dokumentarisch an; als habe Stuber den Film nur gedreht, weil er schon immer wissen wollte, wie so ein Großmarkt logistisch funktioniert. Zwischendurch gibt es gesellige Momente, wenn sich die Belegschaft beispielsweise über die abgelaufenen Lebensmittel im Container hermacht, und natürlich gehören die kleinen und mit Meeresrauschen unterlegten Begegnungen zwischen Christian und Marion zu den Höhepunkten, doch der Rest ist Alltag; und der war selten so fesselnd in einem deutschen Film. Erneut gelingt es Stuber, ganz normale Leute in ihrem ganz normalen Leben zu zeigen, was sich auch deshalb so authentisch anfühlt, weil seine Schauspieler ihre Rollen so gut verinnerlicht haben. Peter Kurth, für „Herbert“ als bester Hauptdarsteller 2016 mit dem Deutschen Filmpreis geehrt, ist auch als Bruno eine Bank. Über Sandra Hüller muss spätestens seit „Toni Erdmann“ ohnehin kein Wort mehr verloren werden, und der Autodidakt Franz Rogowski bestätigt nach „Victoria“ und zuletzt „Transit“ erneut, einer der aufregendsten Schauspieler seiner Generation zu sein. In diesem Jahr war er es, der als Hauptdarsteller eines Stuber-Dramas den Deutschen Filmpreis erhalten hat. (Text-Stand: 18.5.2018)

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Kinofilm

Arte, HR, MDR, SWR

Mit Franz Rogowski, Sandra Hüller, Peter Kurth, Matthias Brenner, Andreas Leupold, Sascha Nathan, Henning Peker

Kamera: Peter Matjasko

Szenenbild: Jenny Roesler

Kostüm: Juliane Maier, Christian Röhrs

Schnitt: Kaya Inan

Redaktion: Meike Götz (MDR), Barbara Häbe (Arte), Brigitte Dithard (SWR), Jörg Himstedt (BR)

Produktionsfirma: Sommerhaus Filmproduktion, Rotor Film, Departures Film

Produktion: Jochen Laube, Fabian Maubach

Drehbuch: Clemens Meyer, Thomas Stuber – Vorlage: Clemens Meyer (Kurzgeschichte)

Regie: Thomas Stuber

EA: 13.11.2020 20:15 Uhr | Arte

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