Ich brauche euch

Mavie Hörbiger, Eisold, Schletter, Fritz Karl, Färberböck. Familie im Krisenmodus

Foto: ZDF / Britta Krehl
Foto Rainer Tittelbach

Zwei Schwestern haben seit Jahren kaum noch Kontakt zueinander. Beide führen ein grundverschiedenes Leben. Die eine ist Single, liebt ihre Unabhängigkeit. Die andere scheint in ihrer Ehe aufzugehen, und sie hat zwei wohlgeratene Kinder. Von einem Tag auf den anderen wird nun für diese beiden die Tante die neue Bezugsperson sein. Denn die Mutter ist tot, und der Vater ist ein Mörder… In dem ZDF-Drama „Ich brauche euch“ (Bavaria Fiction) geht es um das, was man nicht sieht in Beziehungen, und das, was in Ausnahmesituationen oft aufbricht. Ohne den Rettungsschirm, den eine klassische Lösungs-Dramaturgie oder die Finalität des Krimi-Genres bieten, widmet sich Max Färberböck seinen Lieblingsthemen: der Brüchigkeit menschlicher Beziehungen und der Fragilität des Mysteriums „Liebe“. Und dabei  wirft er einen Blick auf die Maskenspiele des Alltags, die zur zweiten Natur geworden sind. In diesem Film haben alle ihr Päckchen zu tragen. Die Unsicherheit der Charaktere spiegelt sich in der Narration. Annäherung verläuft selten geradlinig, häufiger kreisförmig. Keine der Figuren verkommt zur bloßen Funktion für die von Mavie Hörbiger feinnervig und sehr glaubwürdig verkörperte Hauptfigur. Ein Nähe-Konzept fast wie in Corona-Zeiten.

Drei sich völlig fremde Menschen werden plötzlich zu engsten Bezugspersonen
Zwei Schwestern haben seit Jahren kaum noch Kontakt zueinander. Während die eine, die verheiratete Sabine (Judith Engel), es immer wieder mit Einladungen versucht, hält die andere, die jüngere Silvi (Mavie Hörbiger), bewusst den größtmöglichen Abstand. An einem schönen, sonnigen Tag will sie eine Ausnahme machen, Anlass ist ein Gartenfest zum Hochzeitstag ihrer Schwester und ihres Schwagers Markus (Fritz Karl). Klette Alexander (Fabian Hinrich), ihren – wenn überhaupt – Gelegenheitsfreund will sie da lieber nicht dabeihaben. Sowohl er als auch die Gastgeber könnten da zu viel hineininterpretieren. Doch als sie am schmucken Anwesen von Sabine angekommen ist, sie den Auflauf der honorigen Gäste nur von Weitem erblickt, macht sie sofort wieder Kehrt. Es ist einfach nicht ihre Welt. Beide führen ein grundverschiedenes Leben. Sie ist Single, liebt ihre Unabhängigkeit. Sabine scheint in ihrer Ehe aufzugehen. „Danke, Markus, für alles, was du mir geschenkt hast“, sagt sie zu ihm nach der Feier in zufriedener Erschöpfung. Neben diesem Mann, der sie auf Händen trägt, hat sie zwei wohlgeratene Kinder, Jani (Elias Eisold) und Alexandra (Geraldine Schletter). Die beiden werden künftig eine bedeutende Rolle in Silvis Leben spielen. Denn am Tag nach dem gefeierten Hochzeitstag lebt Sabine nicht mehr. Ihr Göttergatte Markus hat sie in der Nacht getötet; er soll sie so lange geschüttelt haben, bis sie tot zusammenbrach.

Ich brauche euchFoto: ZDF / Britta Krehl
„Ich bin einfach nicht in der Lage, was Gutes zu tun.“ In ihrem Beruf als Mode-Designerin geht Silvi (Mavie Hörbiger) auf. Ihre lustvoll inszenierte Unabhängigkeit aber wird von der Realität, dem Tod der Schwester, auf eine schwere Probe gestellt.

Die Brüchigkeit menschlicher Beziehungen & die Fragilität des Mysteriums Liebe
„Man könnte glauben, es gibt das Paradies“, solche Sätze wecken Skepsis, besonders in Filmen von Max Färberböck. Und so klingt das, was man in einem Liebesfilm noch zu glauben bereit wäre, in dem ZDF-Drama „Ich brauche euch“ von Anfang an nach falscher Romantik und nach einer für die Außenwelt gestalteten Fassade. Aber offenbar hält das Ehepaar auch innerhalb seiner Beziehung diese Fassade aufrecht. Am Abend nach der Feier finden beide, allein, warme Worte und liebevolle Blicke füreinander. Von der dunklen Seite ihrer Beziehung, die wenig später aufbrechen wird, bekommt der Zuschauer im Film nichts zu sehen. Die Darstellung der Tat würde womöglich das, worum es in diesem Film geht, nur verdecken: die Fragilität des Mysteriums „Liebe“, die Brüchigkeit menschlicher Beziehungen, die Maskenspiele des Alltags, die zur zweiten Natur geworden sind. Es geht in diesem Fernsehfilm weder um die Tat noch um die Rekonstruktion der Vorgeschichte. Autor-Regisseur Färberböck und seine Ko-Autorin Catharina Schuchmann erzählen zunächst von einer privaten Ausnahmesituation und dem Versuch, die Krise zu meistern: Die Kinder, Silvi, später auch kurz der Vater der beiden Schwestern – sie alle wissen nicht, wie sie mit dem Mord und der Abwesenheit der geliebten Person umgehen sollen. Der Vater ist fassungslos und sprengt mit seiner Wut auf den minderwertigen Ehemann die Trauerfeier. Jani geht seine eigenen Wege der Trauer, und Silvi stößt emotional an ihre Grenzen. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. Die Kinder haben ständig Fragen. Fragen aber fordern Antworten. Das macht Druck, und das ist das Letzte, was Silvi, die erfolgreiche Modedesignerin, haben kann.

Die selbstbestimmte Heldin darf nur noch reagieren und löst sich langsam auf
Die Unsicherheit der Charaktere spiegelt sich in der Narration. Auf dramaturgische Gewissheiten wollen sich die Autoren nicht verlassen. Es geht um den unentwirrbaren Knäuel an Beziehungen. Zwar ist die von Mavie Hörbiger feinnervig und sehr glaubwürdig verkörperte Silvi die Hauptfigur in „Ich brauche euch“, aber auch der 14jährige Sohn, der seine (tote) Mutter – offenbar ähnlich wie sein Vater – idealisiert, beeinflusst lange Zeit den Gang der Handlung. Die, die sonst alles selbst bestimmt, die entscheidet, wann jemand die Gnade ihrer Nähe verdient und wann er aus ihrem Leben zu verschwinden hat, darf hier lange Zeit nicht agieren, sondern muss reagieren. Prompt wächst ihr die Situation über den Kopf. „Ich kann nicht mehr“, zieht sie nach wenigen Tagen einen ersten Schlussstrich. „Ich bin einfach nicht in der Lage, was Gutes zu tun“, sagt sie. Und dieser Satz klingt ganz ähnlich wie das „Ich war ungeeignet“ oder „Ich bin in allem gescheitert“ des Mannes, der ihrer Schwester nicht das Wasser reichen konnte und sie – aus welchem Grund auch immer – tötete. Nicht nur Silvis Unfähigkeit, in dieser konkreten Notlage adäquat zu helfen, ist für die Geschichte von Belang – als Hauptfigur bekommt auch sie ein schlüssiges Charakterprofil, allerdings nicht, um die Geschichte zu erklären und psychologisch abzudichten. Färberböck verzichtet auch hier einmal mehr auf Schubladen: Silvi mag im Beruf erfolgreich sein, aber sie ist nicht die tausendfach im Fernsehen reproduzierte Karrierefrau. Entscheidend ist nicht das Äußere. Interessant ist auch bei ihr das Innenleben. Das äußere Ich ist das Resultat einer nicht grundlos selbstgewählten Überlebensstrategie. Wie jene Silvi ihren Freund nach „guten Monaten“ abserviert, das hat nichts mehr von der souveränen Selbstbestimmtheit, mit der sie noch in der ersten Szene ihren „Beziehungsstil“ freudestrahlend als Glücksmoment verkauft.

Ich brauche euchFoto: ZDF / Britta Krehl
Fein nuancierte Annäherung zwischen der Frau, die vorgibt, niemanden längerfristig für ihr Glück zu brauchen, und den Kindern, denen mehr als nur eine Bezugsperson fehlt. Das Schlussbild zeigt eine neue Qualität der Nähe: eine Umarmung – endlich!

Ob Ehe-Käfig oder Single-Hölle – es gibt für jede Haltung die passende Maskerade
Nicht nur die Ehe der Schwester ist gescheitert. Auch das gegensätzliche, lustvoll kontrollierte Single-Dasein steckt in einer Sackgasse. Ähnlich wie der als Glück inszenierte Ehe-Käfig so ist auch aus der sexy-Unabhängigkeit eine – obgleich in aufgeklärten Kreisen besser beleumundete – Verstellung geworden. „Silvis Maske ist lebendig, wunderschön und unbesiegbar“, so Färberböck und Schuchmann im Presseheft-Statement. „Aber dann kommt, wie in den großen alten Geschichten, eine Bewährungsprobe, die alles, was man errichtet hat, um unverletzbar zu sein, in einzelne Teile reißt.“ So lange es nur geht, hält sie ihre Fassade aufrecht und ihren Partner auf Abstand, bis sie ihm den Laufpass gibt. In einem Degeto-Drama wären es die Kinder, die ihr die Augen öffnen. In einem Drama, das aus den Charakterbildern inklusive einer nur angedeuteten Vita erwächst, laufen Prozesse langsamer oder gehen Umwege, solange das mit sich ringende Ich noch Ausreden hat und Auswege findet. Bei Silvi ist es offenbar die Anwesenheit des dominanten Vaters, durch die das jahrelang Verdrängte an die Oberfläche kommt. Klug, dass sich die Autoren nicht in Vergangenheitsbewältigung und Vaterschelte verlieren, sondern dass das „Problem“ in seiner Konsequenz für die Hauptfigur deutlich wird. So erklärt Silvi in einer Aussprache, die von ihrem abservierten Freund gesucht wurde, warum sie keine romantische Zweisamkeit braucht und will. „Es geht mir gut, und mehr muss es nicht sein.“ Das klingt plausibel, weil sie als Argument auch die „falsche Beziehung“ ihrer Schwester vorbringt. Doch dann führt die Familienbeichte in eine selbst-kritische Richtung. „Ich habe Ihr Unglück gekannt, und ich habe sie dagelassen. Das ist hässlich. Und ich weiß nicht im Geringsten, was man von so einer Frau will.“ Ihr egoistisch-rabiater Umgang mit dem „lieben“ Alex, der mit den Kindern so gut kann, bekommt nun eine verzweifelte, tragische Note. Diese starke Frau mit der klaren Haltung löst sich plötzlich auf.

Weder die Dramaturgie noch das Genre spannen einen simplen Rettungsschirm auf
Solche Charaktere zwischen faszinierend bezaubernd und narzisstisch gestört haben Färberbock und Schuchmann schon des Öfteren auf den Zuschauer losgelassen, im „Tatort“, beispielsweise in „Am Ende des Flurs“ oder zuletzt in „Die Nacht gehört dir“. In dem Fernsehfilm „Ich brauche euch“ verzichten die beiden neben den dramaturgischen auch auf die Gewissheiten, die einem das Genre ermöglicht: eine klare Finalität. Menschen lassen sich schwer in ein solches Muster pressen. Man nehme nur als Beispiel die Form eines dieser typischen Beziehungsgespräche. Menschliche Annäherung verläuft selten geradlinig, eher wellen- oder kreisförmig. Das, was im Krimi schon mal kürzer gehalten wird, beispielsweise die Überbringung der Todesnachricht, wird hier lange ausgespielt. Der ungläubige Blick der Schwester. „Was reden Sie da.“ Dazu Mavie Hörbigers fast ausdrucksloser Gesichtsausdruck. Dann ein langsames Begreifen. Und die Einschätzung ihrer Situation: Sie habe die Familie ihrer Schwester seit Jahren nicht gesehen. „Ich kann das nicht.“ Statt Fragen nach Beziehungen oder nach Alibis werden hier Fragen gestellt, die existentiell sind: „Warum hat er sie so geschüttelt?“ oder „Warum sagst du nicht, warum du am Samstag nicht gekommen bist?“ Im Drama kann man noch mehr dahingehen, „wo’s wehtut“. So wie man sich als Zuschauer fragen kann, warum sich die Hauptfiguren in diesem Film lange Zeit auch physisch so wenig nahekommen: keine Berührungen, keine Umarmungen. Eine rhetorische Frage. Und in so einem Film kann dann schon eher mal eine Figur unvermittelt sagen: „Ich liebe dich.“ Und der Angesprochene kann entgegnen: „Aber ich liebe DICH nicht“ (so der Arbeitstitel).

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Mavie Hörbiger, Elias Eisold, Geraldine Schletter, Fritz Karl, Fabian Hinrichs, Judith Engel, Birthe Wolther

Kamera: Daniela Knapp, Katja Rivas Pinzon

Szenenbild: Oliver Hoese

Kostüm: Ingrid Leibezeder

Schnitt: Johann Müller

Musik: Martin Grube

Redaktion: Günther van Endert

Produktionsfirma: Bavaria Fiction

Produktion: Anna Oeller

Drehbuch: Max Färberböck, Catharina Schuchmann

Regie: Max Färberböck

Quote: 5,12 Mio. Zuschauer (15,4% MA)

EA: 11.05.2020 20:15 Uhr | ZDF

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