„Angeblich denken Frauen über den Tag verteilt im Schnitt alle 60 Sekunden an Sex, Männer alle 52 Sekunden. Ich konnte hingegen keine Angaben finden, wie viele Sekunden, Minuten oder Stunden wir täglich an Mord und Totschlag denken.“ Der Schauspieler Sergej Moya hatte sich da im Frühjahr 2011 eine kluge Strategie ausgedacht. Der damals 23-Jährige wollte nicht nur seinen ersten Film drehen und dazu selbst das Drehbuch schreiben, er wollte auch dem seltsamen Phänomen, dass „echter“ Sex im Mainstream-Film ausgeblendet werde, während Gewalt- und Mordszenarien die Fiktion in Kino und TV dominieren, offensiv begegnen – sprich: er wollte einen Nicht-Pornofilm mit expliziten Sex-Szenen machen und hatte auch gleich einen Zauberbegriff parat: „porNEOgrafisch“. Und weil sich so ein Genre weniger gut auf Staatskosten finanzieren lässt, setzten Moya, Ko-Produzentin, Ehefrau Julia Moya, und TeamWorx auf das neue Finanzierungsmodell Crowfunding. Der Großteil der Produktionskosten von 170.000 € wurde im Netz gesammelt. Ab 5 € konnte man dabei sein. Ein bisschen mehr freilich steuerte Arte bei, der deutsch-französische Kulturkanal zeigt den 40-Minüter, der eine FSF-Freigabe ab 16 Jahren bekam, nun im Spätprogramm, nachdem er zuvor gebührenpflichtig und sehr erfolgreich online und auf DVD zu sehen war.
„Es ist der heißeste Tag seit sieben Jahren. Keine Wolken am Himmel und doch wird es regnen“, mit diesem etwas lapidarem Insert beginnt „Hotel Desire“. Es folgt eine konventionelle Duschszene aus Körperfragmenten, alles in Großaufnahme und in weichgespülter Männermagazin-Ästhetik. Ein softes Erotik-Versprechen auf mehr, doch nicht der Liebhaber gesellt sich unter die Brause, sondern der Sohnemann klopft alsbald an die Badezimmertür. Antonia ist alleinerziehende Mutter, was mit ihrem Job als Zimmermädchen in einem Nobelhotel nur schwer zu vereinbaren ist. Auch heute kommt sie mal wieder zu spät und muss einige Standpauken über sich ergehen lassen. Selbstzweifel überkommen sie – und sie schüttet einer Kollegin ihr Herz aus: sieben Jahre hatte sie keinen Sex. Darauf weiß diese nur einen Rat: die Dinge einfach mal leichter nehmen und die nächste erstbeste Chance zum Sex ergreifen. Und diese Chance kommt schneller, als sich Antonia das erhofft hat. In einer Suite wird sie von einem blinden Maler überrascht. So wie er sich die Welt, die er malt, ertastet, so ertastet er sich Antonias Geschlecht… Auftakt zum dritten Akt: Begierde.
„Hotel Desire“ ist kein Pornofilm, auch wenn er so einiges zeigt, was im Mainstream-Film unter der Bettdecke bleibt: das Vorspiel mit dem Finger an den Schamlippen, Cunnilingus oder den Penis zwischen den Pobacken. In der deutlichen Absicht, nicht aufreizend und stimulierend wirken zu wollen, gleicht sich die Inszenierung aber den gängigen Hochglanz-Liebesszenen an, indem sie „den Akt des größten menschlichen Begehrens“ (Moya) lautstark im melodramatischen Score feiert. Trotz expliziter Penetrationsbildschnipsel erzeugt dies eine ähnliche Künstlichkeit wie die zwanghafte Prüderie (das Handtuch mit der der Schauspieler „ganz beiläufig“ seine Scham bedeckt) und die stereotype Ästhetisierung des Liebesspiels in Mainstream-Filmen. Die Mechanisierung des Geschlechtsakts, wie sie in Pornofilmen üblich ist, wird in „Hotel Desire“ quasi ersetzt durch die Mechanisierung der Filminszenierung.
An der Darstellung von Sexualität im nichtpornografischen Film sind schon namhaftere Filmemacher wie Larry Clark („Ken Park“) oder Lars von Trier („Idioten“) gescheitert. Die überzeugendsten Versuche auf diesem umstrittenen Feld des Filmemachens kommen im Übrigen von Frauen: z.B. von Virginie Despente („Baise-moi – Fick mich!“) und Catherine Breillat („Romance XXX“). Während Moyas „schöner Sex“ nicht ganz frei von Voyeurismus ist (allerdings funktioniert der bei ihm geschlechterübergreifend), so betten die Französinnen die expliziten Geschlechtsakte in realistisch harte Geschichten ein, sind dadurch in vielfacher Weise provozierend und erzwingen einen gesellschaftlichen Diskurs. „Hotel Desire“ ist dagegen ein nettes Filmchen, handwerklich überzeugend, insgesamt aber mit seinen 40 Minuten harmlos. Von wegen, die Länge spielt keine Rolle! Man fühlt sich, was das Format angeht, an die „Erotic Tales“ erinnert, jene öffentlich heiß debattierte Sammlung erotischer Arthaus-Kurzfilme, die Regina Ziegler mit Regisseuren wie Susan Seidelman, Ken Russell, Bob Rafelson, Nicolas Roeg oder Detlev Buck in den 90er Jahren für die ARD produzierte und die seit Jahren nicht wiederholt wurden. Moyas Idee, mehr sexuell oder erotisch motiviertes Handeln (im Gegensatz zu „Mord und Totschlag“ in der medialen Endlosschleife) in Filme flüssig zu integrieren, ist ein richtiger Gedanke und sicher der größte Verdienst dieses kleinen Films. Man sollte diesen Gedanken weiter denken – nicht nur in der Kurzfilmnische.